Die New York am Laufen halten

Ohne ihre lateinamerikanischen Einwanderer käme die US-Metropole in der Pandemie nicht über die Runden

  • Heriberto Paredes, New York
  • Lesedauer: 7 Min.

Am 1. März wurde im Bundesstaat New York der erste Fall von Covid-19 offiziell registriert. Einige Epidemielogen nehmen an, dass schon vorher das Coronavirus in der Stadt New York unter Tausenden zirkulierte. Dies ist schwer zu überprüfen.

Besonders hart betroffen von der Corona-Pandemie sind die Latinos. Viele von ihnen stammen aus Mexiko. In der Migrationsgeschichte der Stadt sind sie die letzte große Gruppe, die nach New York kam. Hier herrschen das Prinzip des Sich-Hocharbeitens und die damit verbundenen Zwänge. Viele Latinos waren schon vor der Pandemie in schlecht bezahlten Jobs als Arbeiter, Verkäufer und in Dienstleistungsbranchen aller Art tätig.

In diesen Tagen halten sie trotz der Gefahren für die Gesundheit als unentbehrliche »essential workers« die Stadt am Laufen. Sei es beim medizinischen oder sonstigen Personal in den Krankenhäusern oder auch als Taxifahrer, Supermarktverkäufer oder Fahrradkurier. Trotz aktuell mehr als 190 000 bekannten Covid-19-Fällen und bereits über 20 000 Todesopfern allein in New York City arbeiten diese Latinos weiter.

Ethnien unterschiedlich betroffen

Tests auf Antikörper und Krankenhausstatistiken des Bundesstaates zeigen, dass in den Stadtteilen Bronx und Brooklyn die Mehrheit der Infizierten und wegen Covid-19 Behandelten Latinos oder Afroamerikaner und diese überproportional häufig betroffen sind. Laut einer Analyse der Stadt aus dem April starben daran pro 100 000 Einwohner 22 Latinos sowie 20 Afroamerikaner - aber nur 10 weiße und 8 asiatischstämmige New Yorker. Allerdings basiert die Untersuchung auf unvollständigen Daten, weil der ethnische Hintergrund nicht immer erfasst wird.

In einzelnen Vierteln der von Armut geprägten Bronx, in Brooklyn und im sehr diversen Queens sind solche Abweichungen noch weit krasser. Im landesweiten Vergleich sind die Latinos in New York City mit ihrer für US-amerikanische Verhältnisse eher umfangreichen sozialstaatlichen und medizinischen Infrastruktur etwas weniger häufig betroffen, aber eben immer noch häufiger als weiße Stadtbewohner.

Ein wichtiger Grund dafür ist mehr Kontakt mit möglichen Virusüberträgern im Arbeitsleben. Die New Yorker Zahlen zu Erkrankungen und Todesfällen korrespondieren mit denen der Demografie über jene, die in der Millionenmetropole in »systemrelevanten« Berufen bei der Post, bei Verkehrsbetrieben, in Apotheken, als Krankenschwestern, Putzfrauen, oder als Handwerker ihr Geld verdienen: Es sind überwiegend Latinos und Schwarze.

Manche finden in der Not innovative Wege, mit der Pandemie umzugehen, sich und andere zu schützen. Esteban Estévez ist einer von ihnen. Der aus Mexiko stammende Indigene lebt in der Bronx, stellt Polster her und fühlt sich der Stadt verbunden. »Ich bin 1990 als 16-Jähriger nach New York gekommen«, erzählt er. Auch wenn er mehrere Male nach Mexiko zurückkehrte: Seine Familie hat ihren Mittelpunkt in den Vereinigten Staaten. Sein Sohn ist 25, seine beiden Töchter sind 20 und 13 Jahre alt.

An Möbeln arbeitet Estévez derzeit nicht. Doch sein Geschäft hat er nicht geschlossen. Während immer mehr Informationen zur Übertragung der Krankheit bekannt wurden, kam Estévez eine Idee. Für in »systemrelevanten« Berufen Arbeitende wollte er Schutzausrüstungen herstellen. Und zwar für diejenigen, die nach Mitarbeitern von Krankenhäusern dem größten Risiko ausgesetzt sind: Kuriere und Lieferdienstmitarbeiter.

Einfacher Schutzhelm

Nun produziert er transparente Plastikhelme, die den Kopf wie eine Blase umschließen. Zur Belüftung hat der Helm auf Höhe der Ohren zwei Löcher. Etwa zehn Minuten dauert die Herstellung eines solchen simplen und billigen Schutzes, der vielleicht Leben retten kann. Estévez benutzt einen biegsamen Kunststoff, mit dem er sonst Sofas abdeckt. »Gorritos« nennt er seine Helmkreation. Sie soll Tröpfcheninfektionen durch das Versprühen von Speichel beim Sprechen verhindern.

Obwohl Estévez dabei zuerst an Kuriere von Lieferdiensten dachte, waren es dann vor allem Kassierer von Supermärkten, die die »Gorritos« bei ihm bestellten. Mit demselben Material hat Estévez auch Schutztrennwände für Taxis entwickelt, die die Arbeit der Fahrer sicherer machen sollen. Bis elf Uhr abends ist er in diesen Tagen mit dem Nähen solcher Schutzschilde beschäftigt. »Viele Taxifahrer kommen deshalb zu mir. Manche fahren mich auch morgens um sieben Uhr zur Arbeit und abends wieder zurück nach Hause«, erzählt der 49-Jährige.

Derzeit arbeitet Estévez auch deshalb länger als sonst, weil er einen Teil seiner Mitarbeiter nach Hause geschickt hat. Es sind die älteren, für die Corona ein besonderes Risiko darstellt und die er nicht in Gefahr bringen möchte. Seine Familie sage auch ihm, dass es gefährlich sei, weiterzuarbeiten. »Aber ich muss. Ich habe zwei kleine Geschäfte und muss die Miete für diese Läden und für mein Haus aufbringen.« Dann betont Estévez noch einmal, dass er gebraucht werde. Eine Taxifahrerin habe ihm Ingwertee vorbeigebracht und geraten, gut auf sich zu achten.

Leben mit der Gefahr

In entsprechenden Berufen weiter zu arbeiten kann für New Yorker tödlich enden. Der Fall Victor Tochimanchi ist ein Beispiel dafür, wie die mexikanische Community in der Stadt von der Pandemie betroffen ist. Als er am 6. April an Covid-19 starb, war er 54 Jahre alt. Seine Familie konnte ihm nicht einmal Lebwohl sagen. Das letzte Mal, dass seine Schwester Olivia seine Stimme hörte, war Ende Februar. »Wegen der Arbeit haben wir uns nicht oft gesehen. Wir haben immer viel auf Parties rumgewitzelt, Victor machte gerne Scherze. Die letzten Sprachnachrichten, die er mir geschickt hat, behalte ich als Andenken«, berichtet Olivia mit stockender Stimme.

Ursprünglich kommt die Familie aus dem mexikanischen Bundesstaat Puebla. 20 Jahre nach ihrem Umzug nach New York City leben die acht Tochimanchi-Geschwister heute verstreut auf verschiedene Nachbarschaften in den zwei Stadtbezirken mit dem größten Anteil von Migranten aus Lateinamerika: Queens und Brooklyn. Victor hatte auf Märkten für Fisch und Meeresfrüchte gearbeitet.

Rund drei Millionen Menschen mit einem migrantischen Hintergrund leben in New York City. Sie stellen 44 Prozent der berufstätigen Bevölkerung. Für die Wirtschaft sind sie damit unentbehrlich, Bürgermeister Bill de Blasio nennt sie »das Herz der Stadt«. Ein großer Teil von ihnen kommt aus Mexiko. Laut Schätzungen besitzen rund 700 000 in dieser Community keine Papiere.

Victors Schwester Olivia arbeitet weiter als Putzfrau, auch wenn es jetzt in der Coronakrise weniger Aufträge gibt. Ihr Bruder, sagt sie, sei erst zum Krankenhaus gegangen, als er bereits schwere Atemprobleme hatte. Nur seinem Bruder J. gab er Bescheid. J. möchte anonym bleiben.

»Mein Bruder hatte Angst, konnte nicht mehr richtig atmen, war nah am Ersticken. Das hat er mir in Textnachrichten mitgeteilt«, berichtet J. Erst auf sein Drängen hin rief Victor einen Krankenwagen. Einen Tag vor seinem Tod wurde er zunächst in das nahe gelegene Northwell Healthcare Center Krankenhaus im Stadtteil Flushing in Queens eingeliefert. Einige Stunden später verlegte man ihn in ein Krankenhaus auf Long Island. Das hing mit der Neuordnung der Gesundheitsversorgung durch die Behörden zusammen. Patienten wurden auf Häuser mit freien Kapazitäten verteilt.

Per SMS teilte Victor seinem Bruder mit, dass er nicht mehr sprechen könne. Kurze Zeit später musste er künstlich beatmet werden. »Ein Arzt rief uns über sein Handy an und sagte uns, dass Victor zwei Herzinfarkte erlitten habe. Er bat uns um die Erlaubnis, die lebenserhaltenden Maßnahmen einzustellen, um ein unnötiges Leiden zu vermeiden«, erinnert sich Olivia.

Ungleiche Bedingungen

Marco Castillo engagiert sich beim Transnational Peoples' Network. Die Organisation setzt sich für mexikanische Migranten ein. Viele von ihnen würden es vermeiden, bei Ärzten Hilfe zu suchen, berichtet Castillo. »Sie haben keinen Zugang zum regulären Gesundheitssystem, versuchen sich anderweitig zu versorgen.« Die Gründe seien hohe Kosten und die Angst vor Abschiebung bei Behördenkontakt. Das führt dazu, dass Latinos wie Victor Tochimanchi erst dann ins Krankenhaus kommen, wenn es schon zu spät ist. Solange diese Ungleichheit nicht beseitigt werde, würden New Yorks Latinos unter der Coronavirus-Pandemie weiter besonders leiden. Auch eine »neue Normalität« nach ersten Lockerungen werde für die Community von Unsicherheit geprägt sein, schätzt Aktivist Castillo ein.

Doch es gibt auch selbstbewusstere Forderungen der Menschen, deren Arbeit jetzt besonders gebraucht wird, nach Hilfe. Menschen wie Esteban Estévez, die es zunehmend wütend macht, zwischen »Weiterarbeiten, bis man krank wird«, für Essen und Miete oder hohen Schulden wählen zu müssen.

Vielleicht waren die Bilder von der Tragödie in den überfüllten New Yorker Krankenhäusern der Grund dafür, dass es in der Millionenmetropole keine nennenswerten Demonstrationen für Lockerungen gab. Stattdessen viele für eine Anerkennung der Arbeit der Tausenden »Systemrelevanten« und mit der Forderung, diese finanziell zu unterstützen.

Bei der Ankündigung gradueller Lockerungen ab dem 15. Mai aufgrund sinkender Covid-Zahlen sagte New Yorks Gouverneur Andrew Cuomo, dass er zwei Alpträume habe. Der eine sei eine Nichtbefolgung der Distanzregeln. Der andere? Dass eines Tages die migrantischen Beschäftigten nicht mehr ihre Arbeit machen.

Übersetzung: Moritz Wichmann

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