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- George Floyd
»Der Umgang mit Rassismus findet hier genauso wenig statt wie in den USA«
Tahir Della von der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland fordert, nicht mehr von Einzeltätern zu sprechen.
Am 25. Mai wurde George Floyd bei einem rassistischen Polizeiübergriff ermordet. Seitdem sind in den USA zehntausende Menschen auf die Straße gegangen. Wie bewerten Sie die Geschehnisse?
Ich glaube, was sich gerade in den USA abspielt, ist eine Summe von vielen Ereignissen. Einerseits hat Corona in den vergangenen Monaten Missstände sichtbarer gemacht und verdeutlicht, auf welchen Werten beziehungsweise Nicht-Werten die US-Gesellschaft eigentlich basiert: auf Ungleichheit, Ungerechtigkeit und Ausbeutung. Hinzu kommt, dass es eine hohe Dunkelziffer von Fällen rassistischer Polizeigewalt gibt, die nicht auf Videos dokumentiert sind.
Tahir Della ist Sprecher des Vereins “Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland” (ISD), der es sich seit 1980 zur Aufgabe macht, die Interessen Schwarzer Menschen in Deutschland zu vertreten, ein Schwarzes Bewusstsein zu fördern, Rassismus entgegenzutreten und die Vernetzung Schwarzer Menschen zu unterstützen und zu organisieren. Della ist außerdem Fachreferent zum Thema Dekolonisierung und setzt sich für die Aufarbeitung der Kolonialgeschichte Deutschlands ein. Mit ihm sprach Vanessa Fischer.
Der Fall George Floyd hat jetzt also das Fass zum Überlaufen gebracht?
Nicht nur. Das eigentlich Erstaunliche ist, dass es sich dabei um eine exakte Wiederholung der Ermordung von Eric Garner durch die Polizei im Jahr 2014 handelt: Beide haben um Hilfe gerufen, beide haben gesagt, dass sie keine Luft mehr bekommen und beide sind dann trotzdem von einem Polizisten ermordet worden. Damals hat es fünf Jahre gedauert, bis der Polizist außer Dienst gestellt worden ist. Verurteilt wurde er bis heute nicht. Und die Ermordung von George Floyd hat jetzt noch mal explizit gezeigt, dass sich einfach nichts verändert hat in den letzten sechs Jahren.
Und wie ist die Situation in Deutschland?
Die Gesellschaften in den USA und in Deutschland könnten nicht unterschiedlicher sein – sowohl was ihre Geschichte, aber auch was ihre gegenwärtige Verfassheit und ihr Selbstverständnis angeht. Es gibt aber eine Sache, die diese so unterschiedlichen Länder gemein hane: ihr Nicht-Umgang mit institutionellem Rassismus.
Was meinen Sie damit?
Die Tatsache, dass Rassismus eben nicht als ein systemisches Problem wahrgenommen wird, vor allem nicht von den Verantwortlichen in Polizei, Justiz oder Politik. Das ist ja sehr typisch für Deutschland. Es wird ständig von Einzeltätern gesprochen, obwohl offenkundig ist, dass es ein gesellschaftlich übergreifendes Problem gibt, auf verschiedensten Ebenen.
Sie sprechen vom NSU?
Ja, die Ermittlungen zum NSU haben deutlich gemacht, dass es eben nicht nur ein Trio war, sondern dass es ein bundesweites Netzwerk gab. Mit Andreas Temme war sogar ein Verfassungsschützer bei einem der Morde anwesend. Aber auch der Mord an Walter Lübcke hat gezeigt, dass es falsch ist, von Einzelfällen zu reden. Der Umgang mit Rassismus findet hier genauso wenig statt wie in den USA. Und das ist die Wurzel des Übels. Wir stoßen da immer wieder an unsere Grenzen, weil wir eben nicht davon sprechen wollen, dass es einzelne Opfer gibt. Hinter diesen Taten steckt ein System, eine Struktur, die das Leben von Schwarzen Menschen, PoC und Migrant*innen maßgeblich prägt und einschränkt und im schlimmsten Fall dazu führt, dass wir um unser Leben fürchten müssen.
Gerade scheinen viele Menschen in Deutschland geschockt zu sein und dem Rassismus etwas entgegensetzen zu wollen. Wie bewerten Sie das?
Einerseits begrüße ich diese Reaktion natürlich. Es zeugt von Empathie und Solidarität, wenn Menschen sagen: »Das ist ja eine Katastrophe!«, und dann auf die Straße gehen. Aber ich bin auch erstaunt darüber, weil es nicht zum ersten Mal und auch hier bei uns vor der Haustür passiert: Letztes Jahr etwa in Hamburg als William Mbobda, der sich selbst in ein psychiatrisches Krankenhaus eingeliefert hatte dort von Sicherheitspersonal so sehr angegangen wurde, dass er an den Folgen verstarb. Oder Amad Ahmad, der von der Polizei angeblich verwechselt wurde und später in seiner Zelle verbrannte. Und natürlich Oury Jalloh, der 2005 ebenfalls widerrechtlich in Polizeihaft gekommen ist und dort angezündet wurde.
...der Fall ist bis heute nicht aufgeklärt.
Ja, und das, obwohl es zig Gutachten und Belege dafür gibt, dass er sich eben nicht selbst angezündet hat, wie Polizei und Justiz das immer noch behaupten. Ich frage mich langsam, ob eine Verurteilung nur möglich wäre, wenn es auch ein Video von der Verbrennung gäbe. Aber das kann ja eigentlich nicht sein.
Meinen Sie, Anti-Rassismustrainings für Polizei und Justiz, wie sie immer wieder gefordert werden, würden da etwas bringen?
Das kann sicher nicht schaden. Viel dringlicher brauchen wir allerdings eine unabhängige Struktur, die die Möglichkeit hat, bei Menschenrechtsverletzungen und rassistischen Vorfällen zu intervenieren und tatsächlich auch Sanktionen zu verhängen. Aktuell muss man sich ja bei der Polizei über die Polizei beschweren. Das ergibt keinen Sinn.
Und was müsste die weiße Mehrheitsbevölkerung in Deutschland tun?
Das Gleiche, was Betroffene tun. Deutlich machen, dass sie nicht einverstanden sind mit dem was in Deutschland passiert, sich organisieren, den Mund aufmachen, widersprechen und Rassismus entgegenstellen, wo sie ihn sehen. Etwa dann, wenn Personen von der Polizei im öffentlichen Raum drangsaliert und kriminalisiert werden. Es ist ja nicht so, dass Rassismus unsichtbar oder nur für Schwarze Menschen sichtbar wäre.
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