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Studieren im Plural
Die Unis sind gerade zwangsläufig im Umbruch. Was vom digitalen Semester bleiben sollte, hat mit Technik aber wenig zu tun.
Das Experiment, das seit Mitte April an deutschen Universitäten läuft, hat verschiedene Namen: »Digitalsemester«, »Kreativsemester«, »Flexisemester«, »Chancensemester«. Egal, wie man es nennt: Dass Lehrveranstaltungen wegen der Pandemie online stattfinden und dass Bibliotheken und Mensen geschlossen bleiben, hat den Hochschulalltag für alle Beteiligten auf den Kopf gestellt.
Dazu gibt es unterschiedliche Positionen, wenige gehen in ihrer Bewertung aber so weit wie der italienische Philosoph Giorgio Agamben. Ende Mai veröffentlichte er in einem Blog des Forschungsinstituts »Istituto Italiano per gli Studi Filosofici« ein »Requiem auf die Studierenden«. Das mittlerweile auf Englisch übersetzte Stück ist ein Abgesang auf jahrhundertealte Hochschultraditionen, die einst auf dem persönlichen Austausch zwischen Gelehrten unterschiedlicher Herkunft beruhten und mit Einführung der digitalen Lehre endgültig zu Grabe getragen würden. Universitätsstädte stürben aus, die »technologische Barbarei« verunmögliche jede sinnvolle Form von Kommunikation, kurzum: Die Zeit, in der das Studierendendasein [studentato] einen Lebensstil darstellte, ist vorbei.
Nun hat sich Agamben im Zuge der Pandemie nicht gerade durch differenzierte Positionen hervorgetan. Die Maßnahmen zur Corona-Eindämmung hält er für unverhältnismäßig, wenn sie dazu dienen, lediglich das »nackte Leben« zu schützen, das mit eingeschränkten Grundrechten ohnehin kaum schützenswert wäre. Hochschullehrende, die sich nun der »Diktatur der Telematik« unterwerfen, erinnern ihn gar an den historischen italienischen Faschismus. Nichtsdestotrotz lohnt es sich zu fragen, welche Konsequenzen das digitale Semester für Studierende hat, wo die Universität sich öffnet und wem sie sich versperrt. Denn zwei Dinge sind klar: Es gibt ein »danach«. Und wenn das Studierendendasein als Lebensstil dann ein anderes ist, ist das durchaus zu begrüßen.
Dafür, dass das Digitalsemester nicht das Ende der Präsenzlehre bedeutet, liefert Agamben selbst nämlich gleich das stärkste Argument: Die Begeisterung für digitale Lehre hält sich zumindest an den deutschen Hochschulen oft in Grenzen. Wer sich in den letzten Semestern an den Universitäten umgeschaut hat, weiß, dass nicht wenige Fachkoryphäen den Beamer im Hörsaal ohne die Hilfe von Erstsemestern nie zum Laufen bekämen. Noch im virtuellen Seminarraum halten Dozierende mitunter halbe Referate, bevor sie bemerken, dass ihr Mikrofon die ganze Zeit ausgeschaltet war.
Abgesehen von den technischen Hürden sind die Videokonferenzen auf Dauer so anstrengend, dass sich mittlerweile ein eigener Begriff dafür etabliert hat - die zoom fatigue: Dass all die kommunikativen Signale, die das Gehirn normalerweise unbewusst verarbeitet, nun eingeschränkt seien oder ganz wegfielen, führe zu einer eigentümlichen Erschöpfung. Nebengespräche sind kaum möglich - und statt die Körpersprache und Mimik eines Gegenübers zu deuten, bleibt nur das gesprochene Wort. Womöglich ist all das der Neuheit der Situation geschuldet und eine Frage der Gewöhnung. Aktuell ist es aber kaum denkbar, dass Studierende und Dozierende sich der rein digitalen Lehre länger aussetzen als nötig.
Was Agamben am pointiertesten beklagt, ist der Niedergang des magisch anmutenden Studierendendaseins als Lebensstil. Er versteht darunter einen aufgekratzten Wissensdurst, regen akademischen Austausch weit über die Lehrveranstaltungen hinaus sowie sich daraus ergebende Freundschaften. Doch romantisiert er hier nicht etwas, das nur einen kleinen Teil der studentischen Lebensrealitäten ausmacht? Fast niemand ist nur Student*in. Manche pflegen Angehörige, andere müssen viel arbeiten oder pendeln ins günstigere Umland. Wieder andere haben kein akademisches Elternhaus oder leben mit psychischen Erkrankungen - nicht für alle Studierenden ist Wissenschaft Erfüllung und Ekstase. All diese Umstände, die maßgeblich beeinflussen, ob und wie jemand das vermeintlich wahre Studierendendasein leben kann, verschwinden nicht an der Türschwelle zum Hörsaal, ob nun analog oder digital.
Selten wurde das so sichtbar wie jetzt, wenn Studierende und Dozierende auf 13 Zoll einen Einblick in die Zimmer und Leben anderer bekommen. Selten konnte so offen darüber gesprochen werden, wie ein gute Studiumspraxis vielen zugänglich ist. Und selten wurde so deutlich, dass eine Lehrform für unterschiedliche Menschen eben unterschiedlich hilfreich ist. Wer etwa Deutsch nicht als Erstsprache spricht, schätzt aufgezeichnete Vorlesungen, die nach Belieben pausiert werden können. Diese asynchrone Lehrform kann aber Personen, deren psychische Gesundheit von Routinen abhängt, zu schaffen machen. Plötzlich ist es relevant, wie gut die heimische Internetverbindung ist, ob sich dort in Ruhe lernen lässt, ob eine Webcam zur Verfügung steht. Wenn es im Digitalen noch keinen Status Quo gibt, sind Sätze wie »Ich schaffe das nicht« kraftvoller als in einem analogen Kurs, dessen Seminarplan sich seit Jahren nicht ändert. Wenn diese Aufmerksamkeit für Grenzen und Bedürfnisse stärker wird und es in die Zeit nach Corona schafft, ist viel gewonnen.
Das digitale Semester verknüpft Personen in ihrer Rolle als Studierende auf eine neue Art mit ihren Lebensumständen und legt mitunter schmerzhaft offen, dass ein Mietrückstand manchmal nur ein verpasstes Nebenjobgehalt entfernt liegt. Wie in so vielen Bereichen gilt auch an der Universität, dass die Pandemie wenige neue Mängel schafft, aber bestehende verstärkt und sichtbarer macht.
Weder läutet also die digitale Übergangslösung das Ende akademischer Zwischenmenschlichkeit ein noch verschwinden plötzlich alle sozialen Unterschiede, nur weil Zoom-Seminare für alle ungewohnt sind. Es ist natürlich einfach, das Ende eines idealisierten, von seinen Umständen losgelösten Studierendentypus zu beweinen. Damit ist den vielen ganz und gar lebendigen Lernenden aber nicht geholfen. Viel hilfreicher wäre es, das Studierendendasein als vielfältige Vision zu verstehen. Wie diese umgesetzt werden kann, darüber müsste man diskutieren. Und das ist doch eigentlich Giorgio Agambens Metier.
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