• Politik
  • Migrationspolitik im Merz-Kabinett

Migration: »Man will mit offener Ansage den Rechtsbruch«

Der Jurist Maximilian Pichl erklärt die Vorhaben der künftigen Bundesregierung im Bereich Flucht und Asyl

  • Interview: Ulrike Wagener
  • Lesedauer: 6 Min.
Ein Bundespolizist an Bord eines Abschiebefluges. Mit Wegfall des »Verbindungskriteriums« könnten diese in Staaten erfolgen, in denen die Menschen noch nie waren.
Ein Bundespolizist an Bord eines Abschiebefluges. Mit Wegfall des »Verbindungskriteriums« könnten diese in Staaten erfolgen, in denen die Menschen noch nie waren.

Schon nach 18 Zeilen heißt es im Koalitionsvertrag: »Irreguläre Migration polarisiert unsere Gesellschaft.« Worauf müssen sich Geflüchtete und Aktivist*innen unter der neuen Regierung einstellen?

Der Koalitionsvertrag atmet den Geist, Migration sei die »Mutter aller Probleme«, wie das Horst Seehofer einmal ausgedrückt hat. Soziale Fragen werden nicht so stark thematisiert, sondern immer über die Karte der angeblich irregulären Migration gespielt.

Irreguläre Migration meint eigentlich Menschen, die sich ohne Kenntnis der Behörden und ohne Erlaubnis in einem Land aufhalten. Das trifft auf Asylsuchende nicht zu. Trotzdem wird der Begriff vermehrt synonym verwendet. Welche Konsequenzen hat das?

Das erzeugt den Eindruck, dass die Menschen, die hier ankommen, hier sind, obwohl sie hier nicht sein dürften. Das Gegenteil ist der Fall. Wer einen Fluchtgrund hat, der hat auch das Recht, um Asyl zu ersuchen und deren Einreise wird auch nachträglich legalisiert. Und wir haben sehr hohe Anerkennungsquoten der großen Flüchtlingsgruppen. 2024 belief sich die sogenannte bereinigte Schutzquote – dort sind Anträge ohne formelle Entscheidungen herausgerechnet, etwa weil sie zurückgezogen wurden oder weil die Menschen an ein anderes EU-Land überstellt wurden – bei afghanischen Geflüchteten auf rund 93 Prozent.

Interview

Maximilian Pichl ist ein deutscher Rechts- und Sozialwissenschaftler. Er ist seit 2023 Professor für Soziales Recht als Gegenstand der Sozialen Arbeit an der Hochschule Rhein-Main.

Vor der Wahl hat die SPD die Pläne der Union für Zurückweisungen von Asylsuchenden an deutschen Außengrenzen noch abgelehnt. Jetzt steht die Maßnahme im Koalitionsvertrag. Wie ist das rechtlich einzuschätzen?

Zurückweisungen in der Form, wie sie die CDU im Wahlkampf vorgeschlagen hat, sind eindeutig europarechtswidrig. Jetzt findet sich im Koalitionsvertrag diese Formulierung »in Abstimmung mit unseren europäischen Nachbarn«. Ich kann mir keine Situation vorstellen, wo das rechtskonform ausgestaltet sein könnte. Worauf das im Endeffekt zielt, ist ein Rollback auf europäischer Ebene. Man will mit offener Ansage den Rechtsbruch vollziehen, um dadurch das Recht grundlegend zu verändern. Das hat eine neue Qualität gegenüber anderen Bundesregierungen vorher, die auch Asylrechte verschärft haben.

Aber auch die Ampel-Regierung hat schon vermehrt Grenzkontrollen durchgeführt ...

Das ist zutreffend, es betraf aber in der Mehrzahl Personen, die nicht explizit um Asyl ersuchten. Nun wird ganz offen gesagt, dass auch Menschen zurückgewiesen werden sollen, die ein Asylgesuch stellen. Und das ist nach dem aktuellen europäischen Recht nicht möglich. Eine entscheidende Frage wird sein, wie sich die Bundesregierung verhält, falls Verwaltungsgerichte diese Zurückweisungen in Eilverfahren stoppen. Wird die Bundesregierung dann offen Rechtsverweigerung vollziehen, wie wir das auch in den USA sehen?

Vor drei Jahren haben Sie in einem Interview im »nd« zu den Pushbacks an der polnisch-belarussischen Grenze gesagt: »Der Abbau von Rechtsstaatlichkeit an den Außengrenzen geht einher mit dem Abbau von Rechtsstaatlichkeit im Inneren der Europäischen Union.« Wie hat sich das seither entwickelt?

Damals hatten wir die Diskussion über Notstände und Ausnahmezustände an den europäischen Außengrenzen. Und das hat sich mittlerweile bis in die kerneuropäischen Staaten hinein ausgeweitet. Man kann der Ampel vieles vorwerfen, aber an einigen Punkten hat sie trotzdem Prozesse aufgehalten, die von rechten Regierungen vorangetrieben worden sind, zum Beispiel in Bezug auf den Ruanda-Deal.

Jetzt wollen Union und SPD sogar selbst Initiative ergreifen, um das sogenannte Verbindungskriterium zu streichen. Das bedeutet, Asylsuchende könnten dann künftig auch in solche Drittstaaten gebracht werden, in denen sie noch nie waren ...

Ich denke, wir müssen davon ausgehen, dass das Verbindungskriterium wegfällt, wenn es keinen politischen Druck auf die Regierung gibt, dem Einhalt zu gebieten. Dann muss man aber sagen: Seit 30 Jahren versuchen EU-Mitgliedstaaten, diese Drittstaatsmodelle umzusetzen. Wirklich funktioniert hat es nie. Und da es scheitert, wird dann die Härte der Migrationspolitik auf dem Kontinent selbst ausgespielt. Deswegen ist es, glaube ich, entscheidender, wie die Grenzregime auf dem Kontinent ausgestaltet sein werden und was man da bereit ist, an rechtsstaatlichen Einschränkungen zu machen.

Die Koalition will aus dem »Amtsermittlungsgrundsatz« im Asylrecht einen »Beibringungsgrundsatz« machen. Was bedeutet das?

Das dürfte eine der gravierendsten Einschränkungen werden. Der Amtsermittlungsgrundsatz bedeutet, jedes Gericht hat die Aufgabe, selbst den Sachverhalt zu ermitteln. Im Asylrecht heißt das: Verwaltungsgerichte müssen Informationen zur Sicherheitslage, Gesundheitsversorgung etc. im Herkunftsstaat einholen. Das ist sinnvoll, weil im öffentlichen Recht Bürger*innen dem Staat als mächtigem Akteur gegenüberstehen. Wird dieser Grundsatz durch den Beibringungsgrundsatz aus dem Zivilrecht ersetzt, lehnt sich das Gericht zurück und hört nur dem zu, was die Parteien vorbringen. Asylsuchende ohne erfahrene Anwält*innen haben dann kaum Chancen, ihre Rechte durchzusetzen. Wenn entscheidende Informationen fehlen, kann das Gericht sie ignorieren – selbst wenn es weiß, dass sie relevant wären. Hier wird das Asylrecht über technische Mittel ausgehebelt.

nd.DieWoche – unser wöchentlicher Newsletter

Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.

Außerdem sollen Ukrainer*innen künftig nach dem Asylbewerberleistungsgesetz behandelt werden – wie andere Asylsuchende. Was hat das für Folgen?

Wir wissen nicht, wie sich der Ukraine-Krieg weiter entwickeln wird. Es kann jederzeit passieren, dass die USA mit Russland ein Abkommen zulasten der Ukraine schließt. Das kann bedeuten, dass dann erneut Hunderttausende Ukrainer*innen nach Europa fliehen. Was machen wir dann? Nehmen wir sie unbürokratisch auf, versorgen wir sie? Oder hat sich der Wind so gedreht, dass wir dann die Solidarität mit der Ukraine aufgeben? An dieser Stelle sieht man, wie kurzfristig gedacht dieser Koalitionsvertrag ist. Er gibt keine Antworten darauf, wie man Strukturen schaffen will, um auf künftige Fluchtbewegungen zu reagieren.

Bundesaufnahmeprogramme soll es jedenfalls keine geben. Laufende, wie das für Afghanistan, sollen beendet werden.

Erstens schafft man damit die einzige Möglichkeit legaler Fluchtzuwanderung ab. Aber ich finde, noch gravierender ist hier die außenpolitische Frage. Deutschland hat eine große politische Verantwortung aufgrund des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan. Ich glaube, jeder Bundeswehreinsatz in Zukunft wird es sehr schwer haben, in der Bevölkerung Ortskräfte zu rekrutieren, weil sie sagen werden, ich kann nie sicher sein, ob ihr uns später unseren Verfolgern ausliefert.
Insgesamt atmet dieser Koalitionsvertrag eine gehörige Portion Nationalismus – ohne klares Bekenntnis zu globaler Verantwortung. Wir haben gesehen, dass die Ampel massiv das Asylrecht verschärft hat, ohne dass es vorher im Koalitionsvertrag so vereinbart war. Ich denke, man muss sich darauf einstellen, dass da noch mehr Verschärfungen kommen, die noch nicht im Koalitionsvertrag stehen. Vor allem, da die CDU jetzt zum ersten Mal beide Schlüsselressorts kontrolliert, nämlich das Innen- und Außenministerium. Sie kann so eine Politik der Härte aus einem Guss durchsetzen, ohne Korrektur durch Koalitionspartner.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -