Die Kinder und das Virus
Die Auseinandersetzung um wissenschaftliche Argumente für oder gegen eine Öffnung von Schulen und Kitas zeigt die Schwierigkeiten mit der Vorläufigkeit von Erkenntnissen.
Mancher Büromensch mag ganz zufrieden sein, dass sich die Arbeit auch von zu Hause erledigen lässt. Doch für nicht wenige ist der Corona-Lockdown eine existenzielle Bedrohung. Kein Wunder also, dass alle Maßnahmen zur Lockerung ebenso aufmerksam verfolgt werden, wie Berichte über neue wissenschaftliche Studien zu Covid-19. Als besonders heiß umstrittener Punkt erweist sich inzwischen die Rolle der Kinder im Infektionsgeschehen. Wer Kinder im Kita-Alter hat, dürfte seine Erfahrungen mit Erkältungen haben, mit denen sie sich bei den Kindern angesteckt haben. Doch ist das, was bei harmlosen Erkältungen oder den nicht so harmlosen Masern zutrifft, auch bei dem Erreger von Covid-19 so?
Eine Anfang Mai im britischen Fachjournal »Lancet Infectious Diseases« publizierte Studie von Wissenschaftlern aus Chinas Industriemetropole Shenzhen kommt zu dem Schluss, dass sich Kinder genau so leicht infizieren wie Erwachsene, wenngleich sie seltener erkranken. Die Forscher vom Shenzhen Center for Disease Control and Prevention konnten dabei auf nahezu vollständige Testdaten zu allen Ansteckungsketten in ihrer Stadt zurückgreifen. Dabei steckten sich die Kinder überwiegend in der eigenen Familie an. Dieser Befund deckt sich mit Zahlen der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie, wonach deutschlandweit bei 81 Prozent der infizierten Kinder die Eltern Quelle der Infektion waren.
Doch mitten in die durch diese Zahlen gestützten Planungen, Schulen und Kitas mit zusätzlichen Schutzmaßnahmen langsam wieder zu öffnen, platzte Ende April die Studie einer Forschergruppe um Christian Drosten von der Berliner Charité. Die Mediziner hatten die seit Januar zusammengetragenen Covid-19-Testergebnisse von über 3000 positiv auf den Erreger Sars-CoV-2 getestenen Personen analysiert und dabei die erfasste Viruslast nach Altersgruppen verglichen. Die Forscher gingen bei ihrer Analyse von der Annahme aus, dass die Menge der im Rachenraum nachgewiesenen Viren ein Maß dafür ist, wie ansteckend der jeweilige Träger ist.
Ein erster Entwurf der Untersuchung hatte Kritik und teils heftige Auseinandersetzungen auch in den Medien nach sich gezogen. Die Aussage damals: Kinder tragen eine ebenso hohe Viruslast wie Erwachsene - und sind mithin vermutlich genauso ansteckend. Die Forscher hatten aufgrund dieser Ergebnisse vor einer uneingeschränkten Öffnung von Schulen und Kindergärten in Deutschland gewarnt. In der neuen Fassung heißt es dazu: »Die uneingeschränkte Öffnung dieser Einrichtungen sollte sorgfältig mit Hilfe von vorbeugenden diagnostischen Tests überwacht werden.«
Studie nach Kritik überarbeitet
Kritik hatte es vor allem an der statistischen Auswertung der Daten gegeben. Die angewandten Methoden seien nicht geeignet, hieß es von Wissenschaftlern unter anderem. Leonhard Held von der Uni Zürich kam bei der Analyse der von Drostens Forschergruppe angeführten Daten zu dem Schluss, dass diese nicht sehr deutlich, aber doch eher einen Trend der Zunahme der Viruslast mit dem Alter belegten. Das Charité-Team hatte für seine statistische Auswertung die Daten in zehn Altersgruppen geordnet, von 0-9 bis 90-99 Jahren. Der Statistikexperte David Spiegelhalter von der University of Cambridge fand beim Vergleich der gleichen Daten von Kindern im Alter von 1 bis 10 Jahren mit allen älteren Personen, dass die jüngeren Kinder im Schnitt 27 Prozent geringere Viruslast aufwiesen.
Allerdings hatten die Kritiker später betont, dass solche Diskussionen in der Wissenschaft normal seien und Kritik an der Methode nicht zwangsläufig das Ergebnis infrage stelle. Drosten räumte zwar ein, die statistischen Methoden seien eher grob gewesen, hielt aber an der Aussage der Studie fest.
Nach den Kritiken wurde das Papier überarbeitet. So wurde die Schlussfolgerung am Ende der Zusammenfassung (Abstract) in der aktuellen Fassung etwas abgeschwächt. Es gebe keine Hinweise, dass Kinder bei Sars-CoV-2 nicht genauso ansteckend seien wie Erwachsene. Darüber hinaus wurde die Datenanalyse präzisiert. Ein Teil der Testdaten aus der Anfangszeit der Pandemie war noch mit einem leicht abweichenden gentechnischen Verfahren entstanden als bei den jüngsten Tests. Bei den neueren Testdaten räumen die Autoren ein, dass durchaus statistisch signifikante Unterschiede bei der Viruslast zwischen Kindern und Erwachsenen gefunden wurden. Kritiker der Studie wie Spiegelhalter und Dominik Liebl von der Uni Bonn konstatieren, dass die statistische Analyse in der aktuellen Fassung deutlich verbessert sei. Liebl hatte zudem schon in seiner ersten kritischen Betrachtung drauf hingewiesen, dass ungeachtet der Ergebnisse im Detail alle Altersgruppen als infektiös eingestuft werden müssen. Der Bonner Statistiker meint, dass auch die neue Version der Studie sicher weiterhin in der Wissenschaft diskutiert werden wird und dass das gut sei. Denn noch handelt es sich bei der Arbeit des Drosten-Teams um ein sogenanntes Preprint, also einen Artikel, der noch nicht für die Veröffentlichung in einem Fachjournal begutachtet wurde.
In der vorgestellten Überarbeitung hat das Team die Daten von insgesamt 3303 Sars-CoV-2-Infizierten analysiert. Sie fanden demnach bei 29 Prozent der Grundschulkinder (0 bis 6 Jahren), bei 37 Prozent der Kinder zwischen 0 und 19 Jahren sowie bei 51 Prozent der über 20-Jährigen eine Virusmenge, die für eine Ansteckung wahrscheinlich ausreichend ist. Die Unterschiede zwischen den Gruppen könnten auch auf unterschiedliche Anwendung der Tests zurückzuführen sein. »Wir schlussfolgern, dass ein erheblicher Anteil infizierter Personen aller Altersgruppen - auch unter denen mit keinen oder milden Symptomen - eine Viruslast trägt, die wahrscheinlich Infektiosität bedeutet.«
Medien und Preprint-Studien
Das Drosten-Papier ist allerdings bei weitem nicht die einzige Untersuchung zum von Kindern ausgehenden Infektionsrisiko. So zeigt eine Ende April im US-Fachjournal »New England Journal of Medicine« veröffentlichte Studie aus Island, dass dort Kinder bisher beim Infektionsgeschehen mit Sars-CoV-2 keine nennenswerte Rolle gespielt haben. Zu dem gleichen Ergebnis kam das niederländische RIVM, ein staatliches Forschungsinstitut.
Die gerade in Deutschland zum Teil recht polarisierende Debatte nicht nur über die jüngste Drosten-Studie, sondern auch über die frühere Untersuchung des Infektionsgeschehens in der Gemeinde Gangelt (Kreis Heinsberg) einer Forschergruppe um Hendrik Streeck von der Uni Bonn hängt wohl auch damit zusammen, dass Medien, allen voran »Bild«, und Landespolitiker sich gern solche Ergebnisse herauspicken, die ihre eigene Positionen stützen. Wenn diese Ergebnisse dann auch noch wie bei Streeck oder jüngst in Baden-Württemberg erst einmal per Pressekonferenz bekannt gegeben werden, ohne dass andere Wissenschaftler die Möglichkeit haben, die Daten und Methoden zu prüfen, sind Kontroversen gesichert.
Tatsächlich ist die Situation für die Politik grundsätzlich schwierig. Von ihr werden Entscheidungen erwartet, die sie möglichst auf gesicherte Erkenntnisse stützt. Doch Wissenschaft liefert letztlich immer nur vorläufige Ergebnisse. Die werden in einem idealen Forschungsbetrieb von Kollegen überprüft, gegebenenfalls widerlegt oder bestätigt.
Wenn allerdings zu einem bisher unbekannten Krankheitserreger noch sehr wenig bekannt ist und deshalb weltweit extrem viele neue Studien veröffentlicht werden, ist dieser Idealzustand weit entfernt. So finden sich derzeit zu dem Suchbegriff »Covid-19« 17 458 Publikationen aus Fachmedien bei der Medizindatenbank PubMed und weitere 4650 in den beiden Preprint-Portalen medRxiv und bioRxiv. Am Fall Drosten kann man sehen, dass die Prüf- und Diskussionsmechanismen in der Wissenschaft dennoch funktionieren.
Es bleibt weiter viel zu forschen, auch zu Kindern. Denn die Zahl der in bisherigen Studien erfassten Kinder ist relativ klein. Deshalb dürften geplante Untersuchungen in Düsseldorf und Hamburg, wo 5000 beziehungsweise 6000 Kinder in Kitas getestet werden sollen, sehr nützlich sein. Nicht nur für die Bewertung von Infektionsrisiken. Denn wie die Leiterin der Hamburger Studie, die Kindermedizinerin Ania Muntau vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf dem Deutschlandfunk sagte, ist es eine »absolut offene Frage« wie häufig und wie schwer Kinder an Covid-19 erkranken.
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