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Musikalische Revolte
Ein wahrer Wurf: «100 Seiten Beethoven» von Stefan Siegert
«Froh bin ich, wieder einmal in Gebüschen, Wäldern, unter Bäumen, Kräutern, Felsen wandeln zu können, kein Mensch kann das Land so lieben wie ich. Geben doch Wälder, Bäume, Felsen den Widerhall, den der Mensch wünscht.» Beethoven
So spät wie Stefan Siegert, der erst im Studium zum ersten Mal die «Eroica», die Dritte, und die Fünfte hörte, bin ich nicht zu Beethoven gekommen, im Gegenteil. Mein Vater, bis heute ein Pfeiler des hiesigen Kirchenchors, war Mitglied der international hoch renommierten Bonner Bach-Gemeinschaft, damals unter der Leitung des Dirigenten und Pianisten Herbert Ermert, und die Familie kam des Öfteren mit, wenn ein Konzert anstand, auch nach Paris oder sonst wohin.
Ich muss zehn Jahre alt gewesen sein, als ich in der Bonner Beethovenhalle zum ersten Mal die «Missa solemnis» hörte. Selbstverständlich begriff ich von dieser umwerfenden und erschütternden Musik rein gar nichts. Aber die frühen, die tiefsten Prägungen sind immer reflexionslose Erfahrungen, und ich erinnere mich fast schmerzlich genau, wie mich Beethovens überzeitliche Messe körperlich berührte, berührte bis zu jener Erschöpfung, die schließlich in den Schlaf schlüpft.
Ich frage mich, wie man im Beethoven-Jahr angesichts der üblichen jubiläumsbedingten Sturzflut an Biografien, Werkdeutungen, Anekdotensammlungen et cetera ein Buch über eines der größten Genies der Menschheitsgeschichte zu veröffentlichen wagt, noch dazu ein so kleines, auf den ersten Blick bescheiden sich beinah wegduckendes. Die Antwort gibt jede Seite, jeder Satz von Stefan Siegerts in der Reclam-Reihe «100 Seiten» erschienenem Band «Beethoven» - ein, um es umstandslos in die gewiss interessierte Welt hinauszuplärren, wahrer Wurf, eine perlend elegante Exegese, ein Glanzstück mimetischer Interpretation, in dem sich Soma, Seele, Kenntnis und Intellekt aufs Glücklichste vermählen.
Kann man schöner, kann man begeisterter über die «Missa» urteilen als Siegert? «Was sich da aber in dieser rätselhaft riesigen Missa in Chören, Solisten und großem Orchester immer neu gen Himmel hebt, ist - noch im demütigen Amen des Credo - die Humanitas. In ihr sitzt bei Beethoven der Mensch auf dem Thron. Beethovens menschheitsgeschichtlich große Messe wird in keiner Kirche aufgeführt, die Kurie versteht sie richtig.»
Adorno, durch dessen musiksoziologische und materialästhetische Arbeiten ich später auch viel über Beethoven gelernt habe, bescheinigte dem in Wien von den Zuwendungen des Adels abhängigen «revolutionären Komponisten» (Siegert): «In ihm lebt verlässlich ein erhaben plebejischer, dem Höfischen feindlicher Widerwille.» Und Siegert, der in seinem lebens- und werkphysiognomischem Essay behutsam Beethovens Widersprüche beleuchtet (man denke etwa an sein «Verhältnis» zu Napoleon), ebenso wie Beethovens entsetzliches Leiden (etwa an seiner Einsamkeit und an seinen katastrophal unerfüllten Liebessehnsüchten), folgt ihm darin.
Zu Recht betont er, angemessen dosiert, immer wieder, dass Beethoven die Ideen der Französischen Revolution selbst in Zeiten der schwärzesten Restauration in der «thematischen Arbeit» und der komplexen Stimmenorganisation seiner Kompositionen (utopische) Gestalt annehmen ließ: «In immer neu anbrandendem Zorn lehnt sich da einer gegen die Einrichtung der Welt auf.»
Ebendies kann sich für den widerspenstigen, alles Zeitgenössische in sich aufsaugenden und zugleich hinwegfegenden Schüler Haydns fürderhin nicht anders denn in einer gewaltigen, überbordend fantasievollen musikalischen Revolte artikulieren: «Mit der Eroica sprengt Beethoven alles, was an der mit Mozart und Haydn gerade erst konsolidierten Form der Symphonie für ihn zur Fessel geworden ist.» Oder, synoptisch gesprochen: «Auch die Perfektion seiner Werke, ihre Vollkommenheit, wenn er gereift sein wird, wird nicht glatt sein.
Das Krude, Ungebärdige erlöst in seiner Musik nur ganz erstaunliche Energien. Und fügt sich zu immer neuen Gestalten von bis dahin unbekannter Schönheit und einer Tiefe und Süße, der die Dunkelheiten und Schmerzen der Kindheit und Jugend kaum anzumerken sind. Wo sich indes der sich befreiende Mensch erhebt, ruht und floriert und singt zugleich die herrliche Natur. Im jedes Fühlenden Herz zerreißenden »Heiligenstädter Testament« von 1802 notierte Beethoven: »So lange schon ist der wahren Freude inniger Widerhall mir fremd. O wann - o wann, o Gottheit - kann ich im Tempel der Natur und der Menschen ihn wieder fühlen?«
Wenige Jahre später brachte er parallel die Fünfte, die »Schicksalssinfonie«, und die Sechste, die »Pastorale«, zu Papier. Man mag von der Dialektik des Individuums und des bürgerlichen Zeitalters reden. Siegert ist empathisch zurückhaltend: »Die Fünfte ist Kampf. Die Sechste Spaziergang. […] Zwei gegensätzlicher kaum denkbare Lebenseinstellungen gehen da auseinander hervor. […] Hört man die Sechste, ist vom ersten Takt an klar: Da tönt ein anderer Beethoven. Nichts ist einfacher geworden. Doch fügt sich auf einmal alles. Wer fragt nach Sinn, wenn einem die Sinne aufgehen? Und was sind denn überhaupt Ideen? […] Diesmal dringt nicht, die Idee im Rücken, das Symphonische überall vor. Diesmal durchtränkt umgekehrt die Leichtigkeit des Seins das Symphonische mit naturhaft einfacher Daseinsfreude.«
Stefan Siegerts tief empfundene Hommage an den radikalen Solitär Beethoven ist Musikgeschichte als Gesellschaftsgeschichte, ohne die genuine Kunst im platten Phantasma der planen Widerspiegelung sozialer und politischer Antagonismen aufgehen zu lassen. Daraus klingt Hingabe an die Begabung und die Verehrung von Beethovens rationalitätssprengender Rationalität. Das mündet konsequenterweise in die gewissermaßen immanent sprachlose Adoration der letzten Streichquartette (die nicht mal Adorno vollends zu durchdringen und zu verstehen vermochte): »Für die späten Quartette gilt, was seit der Hammerklaviersonate von einem Großteil des Spätstils zu sagen wäre: Ohne an irgendeiner Stelle die Formenwelt der Klassik wirklich zu verlassen, ist jede Note Avantgarde.«
Und es schließt, zuletzt, eine Volte mit ein. Denn Siegert gelingt es, die kaputtgespielte, missbrauchte, von politischen Apparaten jedweder Couleur im Dienste der Lüge und der Selbstbeweihräucherung geschändete Neunte (was zumal den vierten Satz betrifft) zu erretten, jene Sinfonie, die unter den »Volksreden an die Menschheit«, wie Adorno Beethovens monumentale Werke nannte, einst als die aus- und eindrücklichste Feier der Emanzipation und der Brüderlichkeit gehört werden musste.
»Ob Beethoven diesen Satz«, die »Ode an die Freude«, »heute wirklich noch hören wollte, gerade er?«, fragte der BR-Klassik-Redakteur Oswald Beaujean vor ein paar Jahren. Stefan Siegert antwortet vermutlich: Ja. Und dank seines still ragenden Büchleins vernimmt man ihn im Finale wieder, »den Elan der Musik französischer Revolutionsarmeen«, Erfüllung findend und sich aufhebend in der »demokratischen Utopie einer in Daseinsfreude solidarischen, harmonisch-humanen Gesellschaft«.
Doch, es ist einfach wahr: »Missa und Neunte überragen alles Überragende.«
Stefan Siegert: 100 Seiten Beethoven. Reclam, 100 S., br., 10 €.
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