Die Grenzen des Spielbaren

Brettspiele waren bisweilen auch subversives Kulturgut, nicht nur in der DDR.

  • Fabian Hillebrand
  • Lesedauer: 5 Min.

In Zeiten von ... - Sie wissen schon - werden wieder Würfel gerollt und Karten gezogen. Während die Absatzmärkte für die meisten Konsumgüter in der Krise in den Keller fallen, zeigt die Kurven der Brettspielverkäufe steil nach oben. »Das sind Dimensionen, die wir vorher nicht erlebt haben«, erzählt Frank Surholt, Pressesprecher des Versandhändlers Otto. Eine solche Masse an Bestellungen kenne man sonst nur vom Weihnachtsgeschäft.

In kaum einem Land wird Brettspielen der Rang von Kulturgütern zugestanden. Deshalb werden sie auch kaum systematisch archiviert. Dabei erzählen sie einiges über die Gesellschaften, aus denen sie entstammen. Das Brettspiel ist eine unterschätzte und oft subversive Kunstform. Das zeigt sich nicht zuletzt in staatlichen Versuchen, das Spiel zu begrenzen.

Kartonierte Möglichkeitsräume

Spiele haben eine narrative und eine ludistische Ebene. Der erzählerische Rahmen legt fest, in welcher Epoche das Spiel stattfindet und welche Rolle der Spielende einnimmt. Einerseits variiert die Geschichte von Runde zu Runde. Diesem kreativen Prozess werden aber Grenzen gesetzt. Spielbretter sind kartonierte Möglichkeitsräume: Welche Gebiete im geografischen Sinne sind durch die Spielfiguren begehbar, welche realen Räume sind unerreichbar und welche fiktiven Räume eröffnen Spiele?

Dass diese Fragen politisch aufgeladen sind, zeigt sich auch daran, wie autoritäre Gesellschaften versuchen, das Spiel zu instrumentalisieren. »Zwischen Sozialdisziplinierung und Vergnügen: Politik und Praktiken des Spielens im Staatssozialismus«, so hieß eine Tagung des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung. Der Vortrag der Geschichtswissenschaftlerin Maren Rögers beschäftigte sich mit den Welten und Grenzen der sozialistischen Brettspiele. Was spielte der Ostblock? Die meisten Spielfelder waren nicht blockübergreifend. Spätestens 1961 führte kein Spiel mehr nach Westdeutschland. Der Weg, der in der Realität nicht mehr gemacht werden konnte, blieb auch den Spielsteinen versperrt. Weitere Charakteristika der Spiele im Staatssozialismus: Während auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs meist mehrere Seiten spielbar waren, konnte man sich in den staatssozialistischen Vorlagen nicht für eine Seite entscheiden - in einem Wohnzimmer in der Sowjetunion konnte nicht der Sieg der USA auf dem Spielbrett gefeiert werden. Sowieso wurde meist der Feind nicht konkret benannt: Der imaginäre Gegner war der »Aggressor« oder der »Imperialist«.

Was das Forscherteam um Maren Röger auch überrascht hat: Die Verlage in den staatssozialistischen Ländern boten kaum Kriegsspiele an. Während die Spielbretter im Westen vor allem von kleinen Plastiksoldaten besiedelt wurden, schien dies nicht in das kultivierte Selbstbild der sozialistischen Staatslenker zu passen.

Spiele hatten im Staatssozialismus zuvorderst eine pädagogische Funktion, sie dienten einem Zweck. Und waren oft ziemlich langweilig. Spiele aus dem kapitalistischen Westen waren derweil verboten, konnten nicht eingeführt werden oder waren einfach schwierig zu erlangen. Weil es westdeutsche Gesellschaftsspiele in der DDR kaum gab, wurden sie nachgebaut. Selbst gemachte Monopoly-Kopien waren oft kreativer und opulenter als die Originale. Mit Knete wurden Bäume nachgebaut, die Spielbretter auf Kühlschrankplatten oder auf Aktendeckel gepinselt.

Martin Thiele-Schwez sammelt solche Spiele. Angefangen hat das mit einer Frage an einem Brettspielabend. »Was haben unsere Eltern eigentlich gespielt und wie hat sie das geprägt?« Seitdem archiviert Thiele-Schwez nachgemachte Brettspiele aus der DDR. Er findet sie auf Dachböden und in Garagen. »Medienarchäologische Funde« nennt der Sammler die Resultate seiner Suche nach den geklauten Klassikern des ehemaligen Klassenfeindes.

Vom Bauern zum ND-Chef

War das Nachmachen von Spielen ein subversiver Akt? Ein Auflehnen gegen die DDR-Obrigkeit und der Wunsch nach Konsumkapitalismus? Thiele-Schwez zögert bei der Frage. Einige der Spielbretter hat er bei Volkspolizisten und NVA-Soldaten gefunden. Das Interesse an Westspielen kam vor allem daher, dass die Ostspiele nicht gut waren, meint der Sammler. Den Spielenden sei natürlich klar, dass sie etwas in der Grauzone der Legitimität taten. Trotzdem sei es oft weniger ein intendierter politischer Akt gewesen. Spielende stießen oft eher zufällig an die Grenzen des in der DDR Erlaubten.

Skatspieler, die sich über die Regelkunde mit ihren westdeutschen Mitspielern austauschten oder Skater, die sein wollten, wie ihre amerikanischen Vorbilder, hatten keine politische Agenda und wurden dennoch kritisch beäugt - wenn auch nicht immer offen gegen sie vorgegangen wurde.

Natürlich gab es auch offen rebellische Spiele. Für den Bürgerrechtler Martin Böttger war es keine große Überraschung, dass die Stasi mehrere tausend Seiten über ihn anlegte. Dass es nach dem Mauerfall eine detaillierte Anleitung seines »Bürokratopoly« fand, inklusive detaillierten Anleitungen und einer Kopie des Spielplans, überraschte ihn aber schon.

In dem Gesellschaftsspiel von 1972 mit »negativ-feindlichem Charakter«, welches im Untergrund zirkulierte, kann man vom Bauern über den Posten des ND-Chefredakteurs bis zum SED-Generalsekretär aufsteigen. Martin Böttger, der das Spiel erfunden hat, erzählte, er wolle damit die auf Status basierende DDR-Wirklichkeit abbilden und kritisieren.

In Westdeutschland erlebten die Spieleschmieden in dieser Zeit einen nie dagewesenen Aufschwung. Vor allem Kriegs-, Handels- und Aufbauspiele boomten und erlauben einen Rückschluss auf die sie umgebene Gesellschaftsformation. Auch in Westdeutschland versuchte der Staat, die spielbare Welt zu verengen.

Das »UNO«-Spiel wurde 1972 von Entwicklungsminister Erhard Eppler gefördert und an Schulen verteilt. Allerdings mussten zunächst einige Ereigniskarten eliminiert werden: Der Weltbankpräsident wurde nicht mehr »unbemerkt entführt«. Auch wurde ein Bonus gestrichen, den es dafür gab, dass ein Entwicklungsland »Russen und Deutsche geschickt gegeneinander ausgespielt hat«.

Auf Antrag des Bayerischen Sozialministeriums wurde 1980 das Unterhaltungsspiel »Provopoli« indiziert. Somit konnten keine Dekane auf der Uni-Toilette eingesperrt oder »Love-Inns« im Stadtpark organisiert werden. Darin sah die CSU eine Aufforderung zu terroristischem Verhalten.

Nach 1989 fanden solche Bemühungen kein Ende. »War on Terror« durfte 2006 auf mehreren Spielemessen nicht gezeigt werden. Das Spiel wirkt seine Botschaft vor allem durch die ludistische Ebene, also die Spielmechanik: Am Anfang versuchen große Weltmächte durch die Schaffung von terroristischen Organisationen andere Großmächte kleinzuhalten. Am Ende wünschen sich die verbliebenen Spieler, sie hätten die Terroristen nicht gefördert. Sie stehen ihnen nun als Hauptgegner entgegen.

»Man bekommt die Gesellschaft nicht aus den Spielen heraus«, schmunzelt Thiele-Schwez und wünscht sich, dass es breitere Debatten um die kulturelle Dimension von Brettspielen gibt. Übrigens: Eines der aktuell meistverkauften Spiele bei Amazon ist das Brettspiel Pandemie. Vom Wohnzimmer aus versucht man die Welt vor einer globalen Seuche zu retten.

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