»Wenn der Wind schärfer weht«

Die Linkspartei und ihre Historiker. Ein Gespräch mit Jürgen Hofmann

Die Historische Kommission beim Parteivorstand der Linken wird 30. Ein Grund zum Feiern?
Grund genug für einen respektvollen Rückblick auf drei Jahrzehnte ehrenamtlicher Arbeit und Dank an alle ehemaligen und gegenwärtigen Kommissionsmitglieder. Sie haben diese Arbeit nicht selten unter komplizierten persönlichen Bedingungen geleistet, ohne auf institutionelle und soziale Absicherung zurückgreifen zu können. Einige vom Gründungsteam, wie der Leipziger Historiker Klaus Kinner, sind immer noch an Bord.

Die Feierlaune dürfte nicht nur ob Corona vermiest sein, sondern auch wegen der Entscheidung der Parteivorsitzenden Katja Kipping just am Mittwoch, die Kommissionsmitglieder empörte. Zu Recht?
Eine Bundestagsabgeordnete der CDU hatte in einem Papier der Kommission aus dem Jahre 2013 einen Satz gefunden, der sich nicht mit der seit Jahrzehnten gepflegten pauschalen Bewertung des 17. Juni 1953 deckt. Damit wurde in der Bundestagsdebatte am Mittwoch ein Angriff auf die Partei Die Linke und ihre Glaubwürdigkeit geritten. Ein Verfahren, das übrigens nicht neu ist. Aus dieser Situation heraus ließ die Parteivorsitzende das Papier aus dem Internetauftritt der Kommission herausnehmen.

Jürgen Hofmann

Am 23. Juni 1990 wurde in Berlin die Historische Kommission beim Parteivorstand der PDS gegründet. Ihr gehören gegenwärtig 28 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an, die ehrenamtlich die Linkspartei in geschichtspolitischen Fragen beraten, öffentliche Konferenzen ausrichten und zu historischen Themen publizieren. Das Gremium ist Mitglied der ITH, der International Conference of Labour and Social History, mit Sitz in Wien.

Anlässlich des bevorstehenden Jubiläums der Kommission sprach mit dem Geschichtsprofessor Jürgen Hofmann, Gründungsmitglied und Mitglied des Sprecherrates, Karlen Vesper, die vor 30 Jahren von der Redaktion »Neues Deutschland« zum Inaugurationsakt entsandt wurde und noch heute Mitglied der Kommission ist.

Foto: privat

Einfach so gelöscht. Könnte auch als Kotau interpretiert werden. Und erinnert mich an Misstrauen und Gängelei der Wissenschaftler durch die SED-Führung dereinst.
Das war schon noch mal etwas ganz anderes. Das grundsätzliche Problem ist jedoch, dass oft die Unterschiede zwischen den Bedürfnissen und Aufgaben der Wissenschaft und denen der Politik nicht beachtet werden. Bei einer so hochgradig von politischen Deutungsinteressen berührten Wissenschaft wie der Geschichte ist das ein permanentes Konfliktfeld. Die Freiheit der Wissenschaft und das Bekenntnis zu einem pluralistischen Geschichtsbild müssen aber auch dann Bestand haben, wenn der Wind der Auseinandersetzung schärfer weht.

Befürchten Sie, dass die Historische Kommission der Linken das Schicksal erleiden könnte wie jene der SPD, die 2018 vom Parteivorstand aufgelöst und durch ein verkleinertes »Geschichtsforum« ersetzt wurde, dem ein Mitglied der Parteiführung direkt vorsteht?
Diese Befürchtung teile ich nicht. Gerade weil die Geschichtsdiskussion immer wieder zur politischen Auseinandersetzung genutzt und nicht selten missbraucht wird, benötigt Die Linke ein Gremium, in dem Fragen der Bewertung von historischen Ereignissen abseits von Tagesbefindlichkeiten diskutiert werden können. Zudem kann die Linkspartei nicht auf das gleiche Potenzial in den Institutionen zurückgreifen, das den politischen Konkurrenten zur Verfügung steht. Da die Mitglieder der Historischen Kommission vom jeweiligen Parteivorstand berufen werden, ist dieser selbstverständlich in seiner Entscheidung frei.

Zurück den Anfängen: Wie kam es zur Gründung der Historischen Kommission?
Ausgangspunkt war der Auftrag des Außerordentlichen Parteitages der SED/PDS im Dezember 1989, »zur Weiterführung der grundsätzlichen Klärung objektiver Bedingungen und subjektiver Einflüsse bei der Ausbreitung stalinistischer Praktiken in unserer Partei und Gesellschaft eine Geschichtskommission beim Präsidium des Parteivorstandes zu bilden«. Ein Aufruf im »Neuen Deutschland« im Januar 1990 stieß auf großes Interesse. Am 23. Juni traf sich die Historische Kommission zu ihrer Gründungssitzung. Bei dieser Gelegenheit wurde noch einmal bekräftigt, kein parteioffizielles Geschichtsbild anzustreben und keine normierten Wertungen vermitteln zu wollen. Die Stellungnahmen der Historischen Kommission sollten vielmehr den Charakter von Diskussionsangeboten haben und der Tatsache Rechnung tragen, dass die Geschichtsdebatte offen sein und offen bleiben muss. Das war eine wesentliche Lehre aus den Erfahrungen des Realsozialismus.

Wäre es übertrieben zu konstatieren, dass ohne die Arbeit der Historischen Kommission, vor allem ihrer kritischen Aufarbeitung des Stalinismus, die PDS die Wirren der - sozialismus- und kommunismusfeindlichen - Zeit, nicht überlebt hätte?
Die kritische und selbstkritische Geschichtsdiskussion war von Anbeginn ein wesentlicher Bestandteil der Erneuerung der Partei. Hier waren sich Kommission und Parteivorstand einig. »Ehrlich zu sich selbst zu sein, seine eigene Geschichte ohne Wenn und Aber zu befragen und allen Angriffen der politischen Gegner zu widerstehen, verlangt ein hohes Maß an Mut und Offenheit. Nur die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit bewahrt uns davor, dass Fehler wiederholt werden«, lautete ein damals abgegebenes Versprechen. Die Auseinandersetzung mit dem Stalinismus und seinem Nachhall steht seitdem immer wieder im Zentrum der Arbeit. Vor allem bis Mitte der 90er Jahre wurde in der sich erneuernden Partei auf Parteitagen, in Konferenzen und an der Basis intensiv zur Geschichte des Sozialismusversuchs und seinen Lehren diskutiert. Das war wichtiger Bestandteil des Selbstfindungsprozesses. Nach der Fusion von Linkspartei.PDS und der Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit, WASG, 2007 zur Partei Die Linke wurde entschieden, diese Arbeit fortzusetzen und erneut eine Historische Kommission zu berufen.

Wie steht es um die öffentliche Wahrnehmung und Wirksamkeit der Kommission?
Diese war in zurückliegenden Etappen unterschiedlich. Wie bereits erwähnt, bildete die Geschichtsdebatte in den ersten Jahren der PDS einen zentralen Punkt bei der programmatischen Neuorientierung. Später traten Geschichtsfragen hinter anderen Herausforderungen der globalen Entwicklung und sozialer Konflikte zurück. Außerdem wird die Geschichtsdiskussion in der Gesellschaft stark von der medialen Vermittlung beeinflusst. Das Interesse der Medien an der Historischen Kommission hielt sich jedoch, von den Anfangsjahren abgesehen, in Grenzen. Lediglich von Zeit zu Zeit, wenn Konflikte vermutet werden, flammt es auf. Auch aus den Reihen der Mitglieder und Sympathisanten der Linken blitzt eine öffentliche Wahrnehmung meist dann auf, wenn Einzelne oder Gruppierungen sich in ihrer eigenen Meinung nicht bestätigt fühlen. So war das zum Beispiel bei der Frage, wie mit der Erinnerung an die Opfer stalinistischer Repression umzugehen sei.

Hatten Sie in all den verflossenen Jahren Feedbacks vom jeweiligen Parteivorstand?
Ja. Umfang und Qualität waren aber unterschiedlich ausgeprägt. Sehr produktiv war es immer dann, wenn Vorstandsmitglieder und Mandatsträger mit der Kommission gemeinsam diskutierten. Konferenzen und Veranstaltungen, bei denen sich Politik und Geschichtswissenschaft trafen, waren aus meiner Sicht für beide Seiten bereichernd. Sie sind eine geeignete Form, Verständnis für die Spezifik der Arbeit des jeweils anderen zu fördern. In den ersten Jahren der PDS fand das regelmäßig statt. Später gab es solche Konstellationen nur noch selten. Es wäre gut, wenn der unmittelbare Austausch wieder öfter gepflegt werden könnte. Dass wir uns aus dem Streit um Geschichtsdeutung nicht heraushalten können, dürfte allen klar sein.

Sind Sie zufrieden mit dem Umgang der Linkspartei mit der Geschichte und ihrer eigenen insbesondere?
Ja und nein. Zunächst gilt festzuhalten, dass die selbstkritische Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit eine große Herausforderung ist. Sie schließt vor allem für die älteren Mitglieder und Sympathisanten stets die Frage nach der Rechtfertigung eigenen Tuns ein. Und: Keine der in der jüngsten Vergangenheit in der Bundesrepublik aktiven Parteien hat sich so intensiv mit ihrer eigenen Vorgeschichte auseinandergesetzt wie die PDS und Linke. Das wird zwar von den politischen Konkurrenten gern ignoriert, lässt sich aber anhand von Konferenzen, Publikationen und Dokumenten beweisen. Inzwischen sind wir aber in einer Situation, in der alte Diskussionen und Vergewisserung neu angeeignet und fortgeführt werden müssen. Außerdem tauchen neue Fragen auf. Geschichte muss stets neu befragt werden auf ihren Wert für Gegenwart und Zukunft. Schlusspunkte können da nicht gesetzt werden. Dazu gehört auch die Aneignung des jeweils neuen Forschungsstandes. Es währt leider oft relativ lange, ehe der im Allgemeinwissen ankommt.

Und auf Deutschland und die Deutschen ausgeweitet - wie zufrieden sind Sie da?
An einer Bevölkerungsschelte möchte ich mich nicht beteiligen. Die Verantwortung liegt bei den Vermittlern. Dass Schulbildung und politische Bildung Lücken hinterlassen, ist ein offenes Geheimnis. Ein qualifizierter Diskurs in der Gesellschaft ist aber ohne eine gewisse Substanz an Wissen nicht zu haben. Die Diskussion um die DDR-Geschichte zeigt, dass Pauschalurteile nicht geeignet sind, den Nachhall von über vier Jahrzehnten bis in die Gegenwart zu verstehen.

Was vermissen Sie in der Gedenk- und Erinnerungskultur in der Bundesrepublik?
Bezogen auf die Gesellschaft möchte ich zunächst auf die bemerkenswerten Fortschritte in den letzten Jahrzehnten verweisen. Getragen von gesellschaftlichen Initiativen, aber auch gestützt durch politische Mehrheiten, ist die Gedenk- und Erinnerungskultur vielfältiger und differenzierter geworden. Dennoch gibt es noch viele Baustellen. So sind beispielsweise die Leistungen von Frauen nach wie vor unterrepräsentiert. Das Thema koloniale Vergangenheit ist neu auf die Agenda gekommen. Die Arbeiterbewegung, der das heutige Europa so viel zu verdanken hat, ist nach meiner Beobachtung in der Erinnerungspolitik leider wieder etwas in den Hintergrund gerückt. Das Potenzial an Ereignissen aus der unmittelbaren Nachkriegsgeschichte in beiden deutschen Staaten scheint mir noch nicht ausgeschöpft. Und die Einbindung der DDR-Geschichte in die Erinnerungspolitik lässt sehr zu wünschen übrig. Auch bei kritischer Rückschau kann sie nicht nur auf 17. Juni 1953, Mauerbau und Mauerfall reduziert werden. Die Geschichte der DDR gehört zum Erbe der heutigen Bundesrepublik, die sich nicht aus sich selbst heraus erklärt. Dieses Erbe sollte ohne Wenn und Aber angenommen werden.

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