Inkompetenz oder Verantwortungslosigkeit

Martina Renner sieht im Fall Anis Amri ein strukturelles Versagen, nicht nur bei der Berliner Polizei

  • Daniel Lücking
  • Lesedauer: 6 Min.

Wie ist der Stand der Arbeit im Untersuchungsausschuss kurz vor der letzten Sommerpause ?

Eine der zentralen Fragen, ob es Fehleinschätzungen der Behörden im Vorfeld gegeben hat, sind wir weit gekommen. Die hat es gegeben. Einer der Kernfehler ist die Fehleinschätzung aus dem Sommer 2016, Anis Amri sei nicht mehr gefährlich. Das geht explizit auf das Konto des Landeskriminalamtes Berlin und auch des Bundeskriminalamtes. Zudem wird immer deutlicher, dass Amri im Vorfeld des Anschlags eine ganze Reihe an Kontakten hatte. Deren Einfluss auf das Anschlagsgeschehen zu klären wird uns weiter beschäftigen.

Martina Renner
Mit der Obfrau im Breitscheidplatz-Untersuchungsausschuss des Bundestages Martina Renner sprach Daniel Lücking über den Stand der Zeugenbefragungen und die Erkenntnisse zur Ermittlungsarbeit der Behörden. 

Was muss man dem LKA Berlin konkret vorwerfen?

Da waren Leute im verantwortlichen Dezernat im Staatsschutzbereich des LKA Berlin eingesetzt, die überhaupt keine Ahnung hatten zu dem Phänomenbereich, mit dem sie sich dort beschäftigt haben. Sie kannten weder die Namen der zentralen Akteure des Dschihadismus in Deutschland noch den Aufbau dieser Struktur. Nach über zwei Jahren Zeugenvernehmungen würde ich sogar von strukturellem Versagen der Berliner Polizei sprechen.

Woran machen Sie das fest?

Wir haben festgestellt, dass beschlagnahmte Kommunikationsmittel, aber auch abgehörte Gespräche und Chats unzureichend und falsch ausgewertet wurden. Für den Abschlussbericht stellt sich uns nun die Frage, ob es sich um inkompetente Beamt*innen handelte, die zum politischen Islam keine Vorstellung hatten, oder ob es - und das trifft besonders den Bereich des BKA - eine Arbeitseinstellung gab, bei der einfach keine Verantwortung übernommen werden sollte. Dass sich Terroristen in Europa natürlich durch ein westlich angepasstes Verhalten tarnen, Alkohol trinken, Drogen konsumieren, schien das LKA Berlin nicht zu wissen. Dieses Verhalten des Attentäters wurde dann im Juni 2016 der Grund, ihn nicht weiter zu beobachten. Das ist ein Ausbildungsdefizit.

Das waren aber nicht die einzigen Defizite...

Es fehlte auch an Sprachkompetenzen. Im LKA wurde teilweise mit dem Googleübersetzer gearbeitet statt mit kulturell erfahrenen Übersetzern. Nach unserem Eindruck kommt noch hinzu, dass in der Wahlkampfphase zum Berliner Abgeordnetenhaus der damalige Innensenator Henkel wohl eine eigene Agenda hatte. Wir müssen prüfen, ob er eine politische Order gab und damit die Arbeitsschwerpunkte im LKA verschoben hat. Es wirkt, als sei damals die Überwachung der linken Szene in der Rigaer Straße priorisiert worden. Dabei gab es Hinweise aus der Telekommunikationsüberwachung, durch Informanten und sogar von ausländischen Nachrichtendiensten, dass da jemand wild entschlossen dabei ist, einen Anschlag zu planen, Waffen und Sprengmittel zu beschaffen. Wenn das LKA zu so einem Zeitpunkt lieber die Teilnehmer von Fahrraddemonstrationen observiert, dann ist das falsche Prioritätensetzung.

Auch beim Bundeskriminalamt gab es Fehler.

Das BKA hätte sehen müssen, dass es gravierende Fehler in Berlin gab. Die verpatzte Kontrolle am Zentralen Omnibusbahnhof in Berlin, bei der sich das LKA nicht an die Absprachen mit den Ermittlern aus Nordrhein-Westfalen gehalten hat, hätte für das BKA Anlass sein müssen, den Fall zu übernehmen. Alle rechtlichen Voraussetzungen zur Übernahme haben unserer Meinung nach vorgelegen. Das war ein Fall von herausragender Bedeutung mit einem konkreten Gefährdungssachverhalt über mehrere Bundesländer hinweg. Da ist die Zuständigkeit des BKA unzweifelhaft gegeben.

Wie sieht es bei Verfassungsschutz und Bundesnachrichtendienst aus?

2016 - das war die Blütezeit des dschihadistischen Terrorismus. Nach den Anschlägen von Brüssel, Paris und Nizza - da müssen sämtliche Geheimdienste Europas aktiv gewesen sein. Und natürlich auch die USA, die ja seit einigen Jahren die digitale Kommunikation des Islamischen Staates IS intensiv überwachen. Dazu die Reisebewegungen in Krisengebiete. Wer an diesen Themen dran war, dem muss unweigerlich auch Anis Amri begegnet sein. Er hatte zu tun mit Leuten, die Waffen für die Anschläge in Paris beschafft haben. Nimmt man dazu noch die Informanten von Verfassungsschutz und Polizei, dann ist das ein gigantisches Informationsaufkommen. Zu herausragenden Treffen wie dem sogenannten Weihnachtsseminar in Hildesheim waren so viele Quellen unterwegs, dass sie sich förmlich auf den Füßen gestanden haben. Unser Eindruck ist, dass die Geschichte von nur einer Quelle in der Berliner Fussilet-Moschee,die Amri häufig besuchte, ein krasses Ablenkungsmanöver ist.

Ist mehr Personal bei Polizeien und Geheimdiensten eine Lösung?

Mehr Personal hilft nichts, wenn ein stellvertretender Kommissariatsleiter in Berlin noch nicht einmal den Namen des IS-Statthalters in Deutschland, Abu Walaa, kennt. Da kann ich noch drei hinsetzen - wenn die auch keine Ahnung haben, dann ist nichts erreicht. Dasselbe gilt auch für das BKA, eine Behörde, die zu Recht in den letzten Jahren einen erheblichen Mittel- und Personalaufwuchs erfahren hat. Immer mit Unterstützung der Bundespolitik. Aber ich frage mich, wo sind die alle?

Stehen mit dem gemeinsamen Terrorabwehrzentrum GTAZ die richtigen Mittel zur Verfügung?

Das ist leider sehr oft mehr Aktionismus als eine Steigerung der Sicherheit. Wir wissen von vielen Zeug*innen: Die Antiterrordatei spielt im tatsächlichen Alltag der Behörden keine Rolle. Im GTAZ wird nur berichtet und es gibt noch nicht einmal ein Protokoll. Es gibt Festlegungen, an die sich dann die Hälfte nicht hält und vor allem wird dort nicht eine gemeinsame, richtige Strategie verabredet.

Wir wissen aus parlamentarischen Anfragen, dass der Bereich der Internetüberwachung, der am stärksten wachsende Teil im Bundesamt für Verfassungsschutz ist. Offene Recherche, Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel, legendierte Mitarbeiter, Quellenführung, eindringen in Messengerkommunikationen - das Portfolio ist und war auch schon damals riesig. Das passt nicht zur öffentlichen Erzählung, vom Attentäter nichts Wesentliches mitbekommen zu haben.

Kürzlich wurden weite Teile des BND-Gesetzes, die auch die Arbeit des Untersuchungsausschusses beeinflussen, für verfassungswidrig erklärt. Wirkt sich das für den Breitscheidplatz-Ausschuss aus?

Da können wir derzeit nur vermuten. Tatsächlich ist nach anfänglicher Freude inzwischen Ernüchterung ein-gekehrt. Die Regierung hat einen deutlichen Spielraum für die Ausgestaltung der Überwachung durch den BND. Den wird sie zu nutzen wissen.

Wie soll die Kontrolle künftig aussehen?

Karlsruhe hat sich deutlich für eine Kontrolle der Überwachung außerhalb des parlamentarischen Bereichs ausgesprochen; vergleichbar dem britischen Investigatory Powers Tribunal. Die Kontrolle durch das Parlament, selbst durch das restriktiv abgeschottete Parlamentarische Kontrollgremium PKGr, wird auch künftig aus Geheimhaltungsgründen begrenzt werden. Das ist sicherlich auf Untersuchungsausschüsse übertragbar. Soweit das Verfassungsgericht auf den unterschiedlichen Charakter der Kontrollebenen - außerparlamentarisch und parlamentarisch - abstellt, hat es aus meiner Sicht einen wichtigen Gesichtspunkt übersehen. Die Zielrichtung von Überwachung und geheimdienstlicher Kooperationen ist auch von der politischen Haltung der Bundesregierung abhängig. Auch eine wirkliche parlamentarische Kontrolle durch die Legislative muss möglich sein. Das Kontrollfenster für die Abgeordneten darf nicht ständig verkleinert werden. Es bliebe dem Zufall oder dem lebensgefährlichen Einsatz von Whistleblowern wie Edward Snowden überlassen, dass Fehler und strukturelle Defizite dem Parlament bekannt werden und deshalb gesetzliche Maßnahmen ergriffen werden können.

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