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Stell dir vor, es ist Pride Month, und keiner geht hin
Der Juni ist traditionell der Monat queerer Sichtbarkeit. 2020 verlief dieser coronabedingt jedoch sehr ruhig – eine Bilanz
»Save our Community, Save our Pride« war das Motto der alternativen Demonstration zum Christopher Street Day am vergangenen Wochenende in Berlin. Trotz der coronabedingten Einschränkungen wollte die Szene im Rahmen des Global-Pride-Tags ein Zeichen gegen die Diskriminierung von Lesben, Schwulen, Bi-, Trans- und Intergeschlechtlichen Menschen setzen. Denn ein Großteil der eigentlich geplanten CSD-Veranstaltungen finden dieses Jahr nur digital statt. Paraden, bei denen in den vergangenen Jahren hunderttausende Menschen zusammenkamen, mussten abgesagt werden.
Warum das nicht einfach nur schade für die LGBTIQ*-Community ist, erklärt unter anderem der Blogger Johannes Kram: »Der eigentliche Kern der Prides besteht im physischen Zusammentreffen der Community.« Ein digitaler CSD sei daher kein CSD, meint Kram, der seit Jahren über Homosexuelle und Homofeindlichkeit in der Gesellschaft schreibt. »Unsere CSDs sind mit die wichtigsten Instrumente, die wir im Kampf für unsere Bewegung haben«, so Kram auf seinem Blog. Dabei ginge es um Sichtbarkeit auf der Straße, das Einnehmen öffentlichen Raums und darum, einmal in der Mehrheit zu sein.
Gleichzeitig hat die Corona-Pandemie dazu geführt, dass nur noch wenige Orte zugänglich geblieben sind, wo sich die queere Community treffen kann: Bars und Cafés waren geschlossen, Szene-Clubs wie das Berliner Schwuz, die auch weiterhin geschlossen sind, können sich nur schwer über Wasser halten. Ähnliches gilt für Beratungsstellen und LGBTIQ*-Projekte. Zwar können diese queere Menschen aus dem Homeoffice heraus unterstützen, Treffpunkte, identitätsstiftende Orte, Rückzugsräume jenseits der Heteronormativität und nicht zuletzt Schutzräume gibt es jedoch kaum.
Dass der eingeschränkte Kampf für Rechte und Anerkennung von LGBTIQ* problematisch ist, wird unter anderem beim Blick auf gestiegene Zahlen homo- und transfeindlicher Übergriffe deutlich. Laut einer Studie des Anti-Gewalt-Projekts Maneo sind in Berlin die Zahlen von Übergriffen auf LGBTIQ*-Personen innerhalb eines Jahres um 32 Prozent. Auch einem Bericht der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) widerum geht hervor, dass 13 Prozent aller Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transsexuellen und Intergeschlechtlichen Personen in Deutschland in den vergangenen fünf Jahren körperlich attackiert wurden. Diskriminierung und Gewalt gehört zum Alltag von homo-, bi- und trans* Personen. Darüber hinaus weisen Studien immer wieder auf ein hohes Risiko suizidaler Gedanken und Verhaltensweisen bei queeren Menschen hin.
Was der Blogger Kram noch im Januar von Berliner CSD einforderte, nämlich endlich wieder politischer zu werden, beobachtete ein Teilnehmer der Demonstration in Berlin: »Der diesjährige CSD war so politisch wie noch nie. Aber in diesen Zeiten muss er das auch sein.« Denn in Ländern wie Polen, mit seinen LGBTI-freien Zonen, ist aktuell eine massiv homo- und transfeindliche Politik zu beobachten. Aber auch Deutschland schafft es seit Jahren nicht, das immer wieder kritisierte, diskriminierende Transsexuellengesetz zu reformieren oder gar das Blutspendeverbot für bi- und homosexuelle Männer aufzuheben.
Aber auch die weltweiten Proteste gegen Polizeigewalt riefen die politische Dimension des CSDs in Erinnerung. Vor 51 Jahren, am 28. Juni 1969, wehrte sich die New Yorker LGBTIQ*-Community gegen wiederholte Razzien in Kneipen der trans- und homosexuellen Szene. Der Aufstand gegen Gewalt und Willkür der Polizei im Stonewall Inn in der Christopher Street verwandelte sich in tagelange Auseinandersetzungen mit der Polizei. Seit 1970 erinnert der Christopher Street Liberation Day an diesen Stonewall-Aufstand gegen Polizeigewalt.
So waren auf dem diesjährigen alternativen CSD auch Plakate mit Aufschriften wie »Black Trans Lives Matter« als Unterstützung für die Anti-Rassismus-Bewegung zu sehen. Eine Black-Lives-Matter-Demonstration fand zeitgleich im Tiergarten statt. Auch dort waren Plakate zu sehen, die sich im Gegenzug auf die Pride bezogen.
»Nur weil es eine Corona-Pandemie gibt, haben Homo- und Transfeindlichkeit keine Pause eingelegt. Daher müssen wir auch draußen sichtbar sein«, erklärte Nasser El-Ahmad, einer der Initiator*innen des alternativen CSD, gegenüber dem »Tagesspiegel«. Wie wahr das ist, wurde dann bereits während der Veranstaltung am Samstag deutlich: Die Pride sei »ohne größere Vorfälle« verlaufen bilanzierte die Polizei, im Netz berichten Betroffene jedoch von homofeindlichen Attacken.
Die Dragqueen Betty Bückse etwa berichtet, von drei Männern angepöbelt worden zu sein. Sie hätten sie außerdem mit einer Plastikflasche beworfen. Ein Video vom Rande des CSD zeigt eine Frau, die mit ihren Krücken Teilnehmer*innen der Demo attakiert. In einem Facebook-Video erzählt Ina Rosenthal, von »Rad und Tat e.V. – Offene Initiative Lesbischer Frauen«, wie ihr Gewalt angedroht wurde. »Scheiß Lesbe« und »Ich mach dich platt« seien noch die harmloseren Beschimpfungen gewesen, so Rosenthal. Sie meint auch, Schweigen und Wegsehen hätten noch nie zu etwas Gutem geführt. »Unsere Chance ist doch die Solidarität, das füreinander Einstehen und uns gegenseitig Schutz zu gewähren.« Im Netz, aber auch auf der Straße – sichtbar.
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