Fast eine Fernsehserie
Im Kino: Claude Lelouch blickt in »Die schönsten Jahre eines Lebens« zum zweiten Mal auf einen Klassiker zurück
Ein Foto aus dem Familienalbum, ein Amateurfilm betrügen uns um unsere verlorene Erinnerung. Wir betrachten sie, haben die Ereignisse, die sie festhalten, längst vergessen und fragen uns: »War das damals wirklich so flach?« Da wäre es besser, ein Foto, ein Film versuchten nicht, uns an etwas zu erinnern, sondern erinnerten sich an sich selbst. Dieses Experiment wagt Claude Lelouch mit »Die schönsten Jahre eines Lebens«. Die Gestalten seines Films erinnern sich an ihre Erlebnisse in einem früheren, »Ein Mann und eine Frau« (1966). Damit ist der neue Film nun schon der zweite, der dessen Geschichte fortspinnt. Bereits 1986, in »Ein Mann und eine Frau. Zwanzig Jahre später«, frischte das Liebespaar aus dem Ursprungsfilm seine Affäre auf. Nun, wiederum über dreißig Jahre später, befindet sich der Liebhaber in einem Heim.
Der Liebhaber war und ist Jean-Louis Trintignant, der im Dezember 90 wird, die Geliebte war und ist Anouk Aimée, deren Alter hier verschwiegen werden soll; sie hat sich gut gehalten. Und sogar die Schauspieler, die ihre Kinder, damals noch im Vorschulalter, dargestellt haben, Souad Amidou und Antoine Sire, treten, beide nun um die 60, erneut auf und müssen sich verlieben, um den Stab weiterzugeben. In einer völlig überflüssigen Szene wird noch Monica Bellucci als vergessene Tochter einges chmuggelt, das Prinzip bleibt sich aber gleich: Film erinnert sich an Film. Die Idee ist drollig, aber auch riskant, denn sie fordert den Vergleich heraus.
Er ergibt: Lelouch ist der Kitschmeister geblieben, der schon 1966 ein Liebespaar auf Schimmeln durch die Landschaft reiten ließ, aber damals waren die von ihm selbst geführte Handkamera, die mit Schwarz-Weiß-Material geschickt versetzten Farben, die Musik, der Schnitt, das Spiel viel reicher. Mehr noch, das Ganze ergab einen bezaubernden kleinen Film, heute ergibt es nur noch eine mit flotten Sprüchen aufgepeppte Margarinewerbungsästhetik.
Ist das ein Fehler von Lelouch? Vermutlich nicht. Es könnte nämlich sein, dass heute gar keine traditionellen Spielfilme mehr gemacht werden können, nur noch Fernsehserien, nicht etwa, weil es an Talent fehlte, sondern weil die in sich geschlossene Geschichte als Genre unserer Zeit nicht mehr angehört. Dagegen hat die Fernsehserie genau das Statische, das unsere Epoche ausmacht; in ihr spitzt sich nur zu, was sich wieder abflachen kann, klärt sich nur, was gleich wieder unklar wird. Es gibt kein Ende, weil es keinen Anfang gibt. Lelouch, der seine Laufbahn beim Fernsehen begann, könnte das gespürt haben; drei Filme aus derselben, ohnehin offenen Geschichte ergeben doch fast schon eine Fernsehserie.
Kurz zu der Geschichte selbst. Sie ist völlig trivial. Ein charmanter Rennfahrer und ein schüchternes Scriptgirl, beide Mitte 30 und bereits verheiratet oder verwitwet, lernen sich in einem Internat kennen, wo ihre Kinder untergebracht sind. Der Rennfahrer und das Scriptgirl verlieben sich, aber sie hat ihren verstorbenen Mann noch nicht vergessen. Zwanzig Jahre später hat sie großen Erfolg im Filmgeschäft, er fährt noch immer Rennen. Sie begegnen sich, die Affäre beginnt erneut. Und im vorerst letzten Teil kommt sein Sohn zu ihr und bittet sie, den Vater in einem Altersheim zu besuchen. Zwar weiß der nicht mehr, was es morgens zum Frühstück gegeben hat, aber spricht noch immer von ihr als der Liebe seines Lebens.
Also begibt sie sich in dieses »Heim des Stolzes«, das Alten nicht nur Pflege, sondern auch Sauna, Pool, Massage, Showeinlagen bietet. Der Rennfahrer und Schürzenjäger freut sich zwar über den Besuch einer schönen Frau, aber erkennt sie nicht wieder. Da er Gedichte, unter anderem von Paul Verlaine, auswendig lernt, wirft sie ihm vor: »An Verlaine erinnern Sie sich, an mich nicht.« Er erwidert: »Verlaine treffe ich hier öfter als Sie.«
Wie schon 1966 hält das Drehbuch auch 2019 die eine oder andere witzige Zeile für die Hauptdarsteller parat, die hin und wieder anrühren. Aber die Leichtigkeit und Beweglichkeit des Klassikers, der in größter Eile, aus Geldmangel halb in Farbe, halb in Schwarz-Weiß (das billiger war) produziert wurde, ist unrettbar verloren. Ja, am Ende steigern sich die wahllosen Rückgriffe des Spätlings auf den Erstling zu einer Art Selbstverwurstung. Und es scheint, dass hier nicht mehr nur ein Film sich an sich selbst erinnerte, sondern sich sogar bei lebendigem Leibe auffräße.
»Die schönsten Jahre eines Lebens«, Frankreich 2019. Regie: Claude Lelouch. Darsteller: Jean-Louis Trintignant, Anouk Aimée, Souad Amidou, Antoine Sire. 90 Min. Ab 2. Juli in den Kinos.
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