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Ruhe vor dem Sturm

Kommenden Tarifrunden lassen intensive Kämpfe um gesellschaftliche Großkonflikte erwarten. Auch die Linke sollte sich vorbereiten

  • Florian Wilde
  • Lesedauer: 5 Min.

Der gesellschaftliche Burgfrieden, der dem Ausbruch des Coronavirus im März folgte, geht zu Ende. Kurzzeitig schien es zu einer Abkehr von der neoliberalen Kürzungspolitik zu kommen: Milliardenschwere Hilfspakete wurden geschnürt, mit denen zwar vor allem den großen Unternehmen unter die Arme gegriffen wurde, die aber auch Beschäftigte, Familien und Solo-Selbstständige erreichten. Eine Aufwertung der systemrelevanten Berufe schien endlich möglich, und die Erfahrung von der Bedeutung eines funktionierenden öffentlichen Dienstes und Gesundheitswesens wirkte so übermächtig, dass eine Rückkehr zur Sparpolitik kaum möglich schien.

Doch mittlerweile zeichnet sich eine erneute Kehrtwende ab: Die Kapitalseite ist fest entschlossen, die Kosten der Krise auf Beschäftigte abzuwälzen, und auch die öffentlichen Arbeitgeber wollen von einer Aufwertung der systemrelevanten Berufe nichts mehr wissen. Den Vorschlag der Gewerkschaft Verdi, die anstehende Tarifrunde Öffentlicher Dienst ins Frühjahr zu schieben und sich als Überbrückung auf einen sogenannten Kurzläufer-Tarifvertrag mit einer Einmalzahlung an die Beschäftigten zu einigen, hat die Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände brüsk zurückgewiesen. Vor dem Hintergrund der leeren Kassen in den Kommunen will sie von Bonuszahlungen an systemrelevante Bereiche nichts mehr wissen.

Vielmehr scheinen Probleme bei der gewerkschaftlichen Organisierung und Mobilisierung durch Corona gnadenlos ausgenutzt zu werden. »Verdi wird sich in den kommenden Wochen entsprechend auf die Tarifrunde vorbereiten«, kündigte der Gewerkschaftsvorsitzende Frank Werneke bereits an. Und so zeichnet sich für September ein potenzieller Großkonflikt um den öffentlichen Dienst ab. Dabei steht viel auf dem Spiel: Verhandelt werden Löhne und Arbeitsbedingungen der Beschäftigten, die häufig eine Ankerfunktion für die Lohnentwicklung in anderen Bereichen haben. Aber auch die Frage nach der gesellschaftlichen Bedeutung der öffentlichen Daseinsvorsorge und ihrer Finanzierung steht auf der Agenda. Hinter allem schwebt das Thema der durch die Coronakrise weiter gebeutelten Kommunalfinanzen. Sollen diese wirklich durch Verzicht und Einbußen auf der Beschäftigten-Seite gestemmt werden? Oder durch eine andere Verteilung, eine langfristige Streichung der Schuldenbremse und höhere Kapitalsteuern?

Ebenfalls im September startet die Tarifrunde Nahverkehr. Verdi hatte sie vor der Coronakrise monatelang vorbereitet und als offensive Tarifrunde angelegt: Vor dem Hintergrund sprudelnder Steuereinnahmen, von Haushaltsüberschüssen und Vollbeschäftigung sollten endlich substanzielle Verbesserungen für die BusfahrerInnen, insbesondere bei Arbeits- und Pausenzeiten, erstritten werden. Um die Dynamik einer bundesweiten Tarifbewegung zu ermöglichen, wurden die Verträge der zersplitterten Tariflandschaft im Nahverkehr synchron gekündigt. Bündnispolitisch schlug Verdi einen neuen Weg ein: Systematisch wurde der Kontakt zur Klimabewegungen wie »Fridays for Future« gesucht, um die Tarifauseinandersetzung gemeinsam und als einen die gesamte Gesellschaft betreffenden, sozial-ökologischen Konflikt um bessere Arbeitsbedingungen und einen Ausbau des ÖPNV zu führen.

Mit der Pandemie gerieten die Prämissen der Offensive ins Wanken. Plötzlich sind die Kassen leer und die Arbeitslosigkeit steigt wieder. Am Bedürfnis der BusfahrerInnen nach besseren Arbeitsbedingungen und an der Notwendigkeit einer Verkehrswende und einem Ausbau des Öffentlichen Nahverkehrs hat sich aber nichts geändert. Die Zeichen stehen also auch hier auf Konflikt – einen Konflikt, dem sich Verdi nicht alleine stellen wird. Gemeinsam mit »Fridays for Future« gibt es Bestrebungen, ein bundesweites Verkehrswendebündnis aus Gewerkschaften, Klimabewegung und Verkehrsinitiativen zu bilden, um bis zur Bundestagswahl Druck zu machen. Auch auf lokaler Ebene formieren sich momentan Bündnisse, um vor Ort Unterstützung für einen möglichen Streik der BusfahrerInnen zu organisieren und die Auseinandersetzung mit eigenen sozial-ökologischen Akzenten politisch zu begleiten und gesellschaftlich zuzuspitzen.

Mit den Tarifrunden im Öffentlichen Dienst und dem Nahverkehr verdichten sich im Frühherbst also zwei gesellschaftliche Großkonflikte unserer Zeit: Der um die Verteilung der Kosten von Coronakrise und Rettungspaketen und der um eine Klimawende, für die im vergangenen Jahr in Deutschland Hunderttausende auf die Straße gingen. Die Auseinandersetzungen könnten das Verhältnis von Gewerkschaften und Klimabewegung nachhaltig und positiv verändern, sollte es tatsächlich gelingen, an einem Strang zu ziehen, Vertrauen aufzubauen und die Grundlage für eine langfristige Zusammenarbeit zu legen.

Dabei gilt: Je politischer die Auseinandersetzung geführt werden wird, desto mehr gesellschaftliche Bündnisperspektiven werden möglich. Je mehr die Tarifrunde Verkehr zu einer Verkehrswende-Tarifrunde wird, desto höher wird die Motivation von Klima- und Verkehrsaktivisten, sich aktiv einzubringen. Und je politischer Verdi die Auseinandersetzung um den Öffentlichen Dienst als eine gesellschaftliche Auseinandersetzung um Daseinsvorsorge und eine Stärkung der kommunalen Finanzen führt, desto mehr werden Bündnisse in die Teile der Gesellschaft möglich, die ein vitales Interesse an einem funktionierenden Sozialstaat haben – bis hin zu den kommunalen Arbeitgebern, die sogar zu potenzielle Bündnispartnern im Kampf gegen die Schuldenbremse und für Steuererhöhungen für die Wohlhabenden werden könnten.

Die gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen im September werden den Ton für die kommende Zeit setzen. Die gesamte gesellschaftliche Linke sollte sich daher auf eine Unterstützung der Gewerkschaften einstellen. Im März klatschten Zehntausende Abends Beifall für die Krankenpflege. Nun gilt es, sie von den Balkonen auf die Straße zu holen und aus ihnen DemonstrantInnen zu machen, die wirklich Druck für eine Aufwertung der Pflegeberufe ausüben. Die gesellschaftliche Stimmung war schon lange nicht mehr so stark auf Seiten der Gewerkschaften wie aktuell, wo die Erinnerung an die Bedeutung eines funktionierenden öffentlichen Dienstes und gute Krankenhäuser mit ausreichendem Personal noch so frisch und die Notwendigkeit von Klimaschutz und Verkehrswende so breit geteilt wird. Nun gilt es, aus diesen Stimmungen eine Bewegung zu machen, um im September konkrete Einstiegspfade in einen sozial-ökologischen Umbau zu erkämpfen.

Dr. Florian Wilde arbeitet im Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung zum Thema gewerkschaftliche Erneuerung.

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