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Beschaulichkeit war gestern
Nach den Krawallen vom 20. Juni ist Stuttgarts Selbstbild angeknackst. Die Ursachenforschung wirkt hilflos
Ein frischer Sommerwind lässt die Blätter der Platanen auf der Königstraße tanzen. Ein junger Straßenmusiker spielt Gitarre. Pärchen mit vollgepackten Plastiktüten schlendern die Meile entlang, Sonnenbrillen auf den Nasen und ein Grinsen im Gesicht. Es ist ein perfekter Sommertag auf Stuttgarts großer Shoppingmeile. Die Krawallnacht vom 20. Juni scheint in weite Ferne gerückt. Hier sollen sich bürgerkriegsähnliche Szenen abgespielt haben?
Man wäre versucht, das rundheraus als unwahr abzutun, gäbe es nicht die Videos, die Fotos, die Augenzeugenberichte. Hundert Meter weiter, am idyllisch zwischen Landtag, Oper und Neuem Schloss gelegenen Eckensee, erscheint die Vorstellung ebenso absurd. Der Ort gilt zusammen mit dem Schlossplatz als Schaufenster Stuttgarts und ziert als beliebtes Fotomotiv unzählige Postkarten. Doch der Schein trügt.
In den Abendstunden ist der vermeintlich idyllische Ort seit langer Zeit zum unwirtlichen geworden, den man lieber weitläufig umgeht. Abends, nicht nur am Wochenende, verwandelt er sich in eine schwer überschaubare Halbwelt aus Testosteron, Alkohol und aufgestauter Wut. Am Mittwochabend sitzen mehrere Gruppen junger Leute auf einer Steinbank vor dem kleinen See, rauchen E-Zigaretten und hören mit dem Smartphone Musik.
Die Stimmung ist ausgelassen, kippt aber, als der Autor dieser Zeilen sich als Presse zu erkennen gibt. Einer der Jungs spuckt demonstrativ auf die Straße. Die Blicke sagen: Verschwinde hier! Man will seine Ruhe, fühlt sich schnell provoziert - und ist vorsichtig geworden seit dem 20. Juni. Niemand will offen sprechen, die Skepsis der Polizei gegenüber scheint nun auch den Medien zu gelten. Nur Deniz, ein 20-jähriger Azubi aus dem Stuttgarter Umland, will sich äußern.
»Was hier passiert ist, ist nicht okay. Manche wollten eben Stress, wollten Action, denke ich. Es ist sonst einfach nichts mehr los hier in der Stadt«, sagt er. Die Polizei steht in Sichtweite. Der Eindruck: Ein kleiner Anlass würde genügen, und es kracht hier erneut. So wie vor zwei Wochen. Mehr als 500 Menschen haben in der Nacht vom 20. auf den 21. Juni in der Stuttgarter Innenstadt geprügelt, zerstört, geplündert und buchstäblich über Nacht das Bild erschüttert, dass viele von Stuttgart hatten.
Vor allem das Bild jener, die selbst nicht in der Stadt wohnen und sie hauptsächlich von Wochenendausflügen kennen. Der Funke, der zum Flächenbrand führte, bestand in der Drogenkontrolle eines Teenagers im Schlossgarten, mit dem sich blitzartig mehrere Hundert Menschen solidarisierten und die Polizei attackierten. Flaschen und Fäuste flogen, Schaufenster wurden eingeschlagen, Polizeibeamte angegriffen, Autos demoliert.
34 der mutmaßlichen Täter konnte die Polizei mittlerweile ermitteln. Ein Großteil davon hat Migrationshintergrund, auch Geflüchtete sind darunter. Die Reaktionen der Verantwortlichen sind bis heute von Hilflosigkeit geprägt. Unklar ist weiterhin die Frage, ob die Gewaltexplosion tatsächlich eine Stuttgart-spezifische war oder vielmehr ein Einzelfall, wie er immer und überall vorkommen kann, befeuert von einer singulären Gruppendynamik.
Die derzeit kursierenden Erklärungsansätze sind oft widersprüchlich, teilweise auch abenteuerlich. So hatte der Stuttgarter Polizeipräsident Franz Lutz bereits am Tag nach den Krawallen einen politischen Hintergrund ausgeschlossen und die Stuttgarter »Party- und Eventszene« für die Ereignisse in Haftung genommen. Dagegen verwahrte sich wiederum Oberbürgermeister Fritz Kuhn (Grüne), der sich bemüßigt sah, das Recht auf Party zu verteidigen. Innenminister Thomas Strobl (CDU) lieferte im Landtag keine Erklärung, sondern geißelte die Jugendlichen einfach kollektiv als »widerwärtigen Mob« und insinuierte später in Widerspruch zu Aussagen der Polizei, dass sich Linksextreme zumindest am Krawall beteiligt hätten.
Belege dafür konnte Strobl, der sich in vorhersehbarer Manier als kompromissloser Null-Toleranz-Minister geriert, freilich nicht vorweisen. Rufe nach mehr Videoüberwachung, Alkoholverboten auf öffentlichen Plätzen und erhöhter Polizeipräsenz wurden in den Tagen danach laut. Erste konkrete Maßnahmen folgten in dieser Woche. Am Donnerstag kündigten Kuhn und Strobl eine Sicherheitspartnerschaft zwischen Land und Stadt unter dem Titel »Stuttgart sicher erleben« an.
Fritz Kuhn, eigentlich nicht als Hardliner bekannt, verteidigt bislang standhaft das liberale, offene und multikulturelle Stuttgart; dieses von Politik und Medien gepflegte Narrativ geht bis zur Ära Manfred Rommel zurück. Der CDU-Politiker diente der Landeshauptstadt von 1974 bis 1996 als Oberhaupt. Doch dieses Narrativ wackelt derzeit gewaltig, wie auch jenes, nach dem Stuttgart eine der sichersten deutschen Städte sei.
Mantrahaft hatte die Verwaltung es immer wieder heraufbeschworen, angefangen von Ordnungsbürgermeister Martin Schairer, einst Polizeipräsident Stuttgarts, bis hin zum Oberbürgermeister selbst. Die Schöpfer dieses Selbstbilds zeichneten Stuttgart als wirtschaftsstark und beschaulich, als weltoffen und bodenständig, als multiethnische Metropole, die man aber immer noch vom Weinberg aus in Halbhöhenlage komplett überschauen konnte. Dieses Selbstbild der »Großstadt zwischen Wald und Reben« hatte man gepflegt und vermarktet, ortsansässige Medienhäuser spielten gerne mit auf dieser Klaviatur der Heimeligkeit.
Und selbst wenn diese Sicherheit nicht auf Märchen beruhte und statistisch nachweisbar ist, spielt sie für die Menschen keine Rolle mehr. Stuttgarts Ruf ist ramponiert, die Stadt der schlechten Luft und der Staus ist nun die Stadt der schlechten Luft, der Staus und der Schlägerbanden. Doch das Problem ist auch hausgemacht. Beschaulich ist die Stadt nämlich nur noch für jene mit verklärtem Blick. Für die Krawalle gab es in den Wochen vor dem 20. Juni viele Anzeichen. Polizeikontrollen arteten in Massenschlägereien aus, die die Beamten nur mühsam unter Kontrolle bringen konnten.
Soziale Spannungen und Unsicherheiten, verbunden mit den strikten Maßnahmen der Corona-Verordnung des Landes, führten bei vielen Jugendlichen zu einer Grundaggression, die nur einen Anlass suchte, um sich zu entladen. Die Polizei, die in der Krawallnacht mit doppelter Mannschaftsstärke Präsenz zeigte, lieferte den jungen Menschen durch die Drogenkontrolle wohl diesen willkommenen Anlass.
In Stuttgart hat die Polizei zudem seit vielen Jahren mit Imageproblemen zu kämpfen. Viele können sich noch aus eigener Erfahrung an den Schwarzen Donnerstag im September 2010 erinnern, als Wasserwerfer gegen Demonstranten im Schlosspark eingesetzt und mehrere Menschen teils schwer verletzt wurden.
Selbst wer nicht dabei war, kennt die Fotos. Das Vorgehen hat sich ins kollektive Bewusstsein der Stadt und Region eingebrannt, ein blindes Vertrauen in die Beamten gibt es spätestens seit jenem Tag nicht mehr. Auch die Berichte über rassistische Übergriffe von Polizisten in den USA dürften die Situation verschärft und zu einer zusätzlichen Enthemmung der überwiegend betrunkenen Jugendlichen geführt haben.
Im Schlossgarten und am Eckensee versammeln sich stets viele Jugendliche aus dem Stuttgarter Speckgürtel. Der Abstecher in die Großstadt am Wochenende hat eine lange Tradition. Jugendliche aus dem wohlhabenden, aber kulturell verarmten Umland suchen den Kick in der Clubszene rund um die Theodor-Heuss-Straße, die Partymeile Stuttgarts. Weil Strukturen wie Schule und Ausbildung pandemiebedingt ab- oder weggebrochen und Clubs und Diskotheken geschlossen sind, fehlt es den Jugendlichen an einem Ventil. Das Versagen der Landespolitik spielt hierbei ebenfalls eine Rolle, wird jedoch nur wenig thematisiert.
Ein Grund dafür ist, dass der in der Krise heillos überforderte Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) als ehemaliger Lehrer seine Beamten protegiert, wo immer es geht. Dabei haben Untersuchungen gezeigt, dass sich ein Fünftel aller Lehrer in Baden-Württemberg zur Corona-Risikogruppe zählt und sich deshalb weiterhin weigert, Präsenzunterricht durchzuführen - deutschlandweit ein Rekordwert.
Dass man Jugendliche zu lang im Stich ließ, hat nun auch die Stadt Stuttgart eingesehen. So kündigte Sozialbürgermeisterin Isabel Fezer (FDP) in dieser Woche an, baldmöglichst ein zweites »Haus des Jugendrechts« einrichten zu wollen. Das kommunale Präventionsprojekt soll dazu beitragen, dass straffällig gewordene Jugendliche ihr Verhalten langfristig ändern. Fezer bezeichnete es im städtischen Jugendhilfeausschuss außerdem als Fehler, dass die Stadt vor acht Jahren Streetwork-Projekte in der Innenstadt eingestellt habe, und kündigte an, sie wieder einzurichten.
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