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  • Brandenburg
  • Zentrum für experimentelle Gesellschaftsgestaltung

Liebe, Sex und Klimaschutz

Ein Besuch im Zentrum für experimentelle Gesellschaftsgestaltung in Bad Belzig

  • Andreas Fritsche, Bad Belzig
  • Lesedauer: 4 Min.

Annik Trauzettel hat früher in Halle/Saale in Migrationsprojekten gearbeitet. Es war eine sinnvolle Tätigkeit, aber doch nur ein Bürojob - und wenn der erledigt war, saß sie allein in ihrer Einraumwohnung. So wollte sie nicht weiter leben. Eine Gemeinschaft gefunden hat sie vor anderthalb Jahren im Zentrum für experimentelle Gesellschaftsgestaltung (ZEGG) in Bad Belzig. Hier lebt die 32-Jährige mit 110 Gleichgesinnten, zu denen 15 Kinder gehören. Hier kümmert sie sich um die Öffentlichkeitsarbeit - und nebenbei in einer Ökogruppe darum, alles noch umweltfreundlicher zu organisieren.

Der Abgeordnete Thomas von Gizycki (Grüne) sitzt seit Herbst 2019 im brandenburgischen Landtag und betreut den Landkreis Potsdam-Mittelmark. Er wohnt aber in Hohen Neuendorf im Kreis Oberhavel. In Potsdam-Mittelmark gibt es für ihn deshalb noch viel zu entdecken. So ist er im ZEGG vorbeigekommen - ganz umweltbewusst mit dem Fahrrad - und lässt sich alles erklären.

Das kann dort niemand besser als Bill Nickl. Der Österreicher ist dabei, seit die 1978 in Süddeutschland gegründete Gemeinschaft das Areal im August 1991 für 1,9 Millionen Mark kaufte, um für sich mehr Platz zu haben. »Das war die Zeit, als man in Ostdeutschland alles kaufen konnte, Schlösser sogar«, erinnert sich Nickl. »Wir haben Anzeigen geschaltet und mehrere hundert Angebote bekommen.« Die Wahl sei auf Belzig gefallen, weil man hier sofort einziehen konnte. Auf dem weitläufigen Areal befand sich bis 1988 eine Ausbildungsstätte der Hauptverwaltung Aufklärung, also der Auslandsspionage des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit, getarnt als Objekt der Gesellschaft für Sport und Technik.

Das Pförtnerhäuschen und die Garagen, in denen die Betriebsfeuerwehr des ZEGG Schläuche und Einsatzkleidung lagert, sind typisch DDR, andere Gebäude wie die Kantine älteren Ursprungs. Die zubereiteten Speisen sind vegetarisch und an zwei Tagen in der Woche vegan. 70 Prozent des verkochten Gemüses werden auf rund 20 000 Quadratmeter Gartenland selbst angezogen. Allein die Tomatenernte belief sich im vergangenen Jahr auf zwei Tonnen. Acht von 50 Angestellten des ZEGG sammeln gerade Kartoffelkäfer ab. Mit heißem Wasser abgetötet dienen die Insekten als Dünger, den der karge Sandboden im Hohen Fläming dringend nötig hat. Um den Boden fruchtbar zu machen, erzeugt das ZEGG nach portugiesischem Vorbild eine spezielle Biokohle.

Das hört sich perfekt an. Aber es ließe sich noch mehr tun, denkt Cordula Andrä von der Geschäftsführung. »Fridays for future hat uns aufgeweckt.« Benötigen 110 Bewohner wirklich noch 30 private Fahrzeuge? Um die Zahl der Autos zu reduzieren, wurde eine Parkgebühr von zehn Euro im Monat eingeführt, obwohl genug Stellfläche vorhanden ist. Auch Annik Trauzettel muss zehn Euro bezahlen. Sie hat ein Auto, verleiht es aber öfter, als selbst damit zu fahren, entschuldigt sie lachend. Einfach mal nach Thailand düsen, weil die Flüge gerade billig sind, das gehe hier nicht, erzählt sie. Man müsse in der Gemeinschaft klären, ob Urlaub an der Ostsee nicht genauso gut sei.

Anders als in anderen Gemeinschaften wird das Vermögen nicht zusammengelegt. Jeder behält sein eigenes Geld, zahlt Miete und bekommt Lohn, wenn er im ZEGG angestellt ist. Einige haben Arbeitsplätze außerhalb. Hinter dem Zentrum steht eine gemeinnützige GmbH. Diese lebt von den bis zu 150 Gästen, die Seminare besuchen. Zu Festivals kommen 350 oder mehr. »Bei unseren Seminaren dreht sich viel um Liebe und Sexualität«, erläutert Andrä. Das Jahresprogramm werde an 8000 Adressen verschickt. Die Stichworte lauten - neben Trommeln oder Bodypainting - Tantra, spirituelle Sexualität und Liebesakademie. Da ist es vielleicht kein Wunder, dass unter den Alteingesessenen einst das Gerücht umging, das Gelände sei in die Hände einer esoterischen Sexsekte gefallen. Auch von außerhalb kamen früher solche Vorwürfe. Einiges davon ist noch im Internet zu finden. Da heißt es, die Machenschaften seien gut getarnt. Vor Ort ist nichts dergleichen zu spüren. In der Aufbauphase sei die Gemeinschaft mit sich selbst beschäftigt gewesen, erklärt Bill Nickl die ihm zufolge falschen Vorstellungen von dem, was hier geschehe. Doch man sei offen. Jeder könne kommen und sich ein Urteil bilden. Die Bewohner wirken auch in die Stadt hinein. Nickl, Archivar und geschichtsinteressiert, bietet Stadtführungen an. Die Linke hat ihn zum sachkundigen Einwohner im Stadtentwicklungsausschuss des Stadtparlaments bestimmt.

Ehemalige Bewohner ließen sich im Laufe der Jahre in der Umgebung mit eigenen Projekten nieder. So bildete das ZEGG »die Keimzelle der Alternativkultur der Region«, schwärmt Achim Wehrle, Vorsitzender der Grünen in Bad Belzig. Nachgerückt sind Menschen wie IT-Spezialist Lennart Schütz, der vor vier Jahren aus dem Raum Stuttgart zum ZEGG stieß und dort in einem Bauwagen lebt. Er wollte seinem Dasein mehr Sinn geben. Anders möchte der 40-Jährige nun nicht mehr leben, auch wenn es durchaus mal Konflikte gibt.

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