Lohndumping einen Riegel vorschieben

Ein Mindestlohn-Rahmen in der EU ist überfällig, meint die Europaabgeordnete Özlem Demirel

  • Özlem Demirel
  • Lesedauer: 3 Min.

Vergangene Woche beschloss die deutsche Mindestlohnkommission eine mehrstufige Erhöhung des Mindestlohns. Er soll bis Mitte 2022 auf 10,45 Euro steigen. Zuvor hatte der Wirtschaftsflügel der CDU gefordert, die Erhöhung wegen der Krise auszusetzen. Gewerkschaften, Wissenschaftler*innen und Die Linke hingegen machten sich stark für eine schnelle Erhöhung auf mindestens zwölf Euro. Alles andere bedeutet Armutslohn. Auch mit den jetzigen Beschlüssen liegt der deutsche Mindestlohn weiter unter der offiziell anerkannten Armutsrisikoschwelle.

Doch nicht nur in Deutschland, sondern in vielen europäischen Ländern wird über Mindestlohnregelungen gestritten. Inzwischen hat auch die EU-Kommission für den Herbst eine eigene Initiative angekündigt. Wie deren Vorschlag konkret gestaltet sein wird, ist noch nicht absehbar - doch die Arbeitgeberverbände laufen bereits jetzt Sturm dagegen. Dabei ist es dringend notwendig, dass die EU einen Mindestlohn über der jeweiligen nationalen Armutsgrenze als verbindlichen Rahmen vorgibt. Diese Armutsgrenze liegt bei 60 Prozent des mittleren Durchschnittslohns (»Brutto-Median«) im jeweiligen Mitgliedstaat. Wer weniger verdient, gilt als armutsgefährdet. Wo die Löhne allerdings insgesamt sehr niedrig liegen, reicht allerdings dieses 60%-Kriterium wiederum nicht aus.

Um die Höhe, Reichweite und die verschiedenen Modelle des Mindestlohns in den EU-Mitgliedstaaten vergleichen zu können, hatte ich eine Studie in Auftrag gegeben, deren Ergebnisse jetzt vorliegen. Nun lässt sich festhalten: Bis auf sechs Mitgliedstaaten der EU, in denen durch tarifvertragliche Regelungen der Niedriglohnsektor eingedämmt wird, gibt es in den anderen Ländern der EU einen gesetzlichen Mindestlohn. Doch in fast allen EU Mitgliedstaaten ist die festgelegte Mindestlohnhöhe zu gering und liegt unterhalb der nach objektiven und wissenschaftlich anerkannten Kriterien definierten Armutsschwelle. Allein in Frankreich, Portugal und Schweden (dort über sektorale tarifliche Lösungen) gibt es zumindest legal keinen Lohn unterhalb der 60 Prozent des mittleren Durchschnittslohns.

Doch selbst in diesen Ländern und auch in fast allen weiteren Mitgliedstaaten der EU finden Kampagnen und Auseinandersetzungen mit der Forderung nach höheren Mindestlöhnen statt. In Frankreich rebellierten beispielsweise die Gelbwesten gegen den unzureichenden Mindestlohn und auch Gewerkschaften weisen schon länger darauf hin, dass der französische Mindestlohn nur knapp über der Armutsrisikoschwelle liegt. Getragen werden all diese Diskussionen und Bewegungen vor allem von Gewerkschaften, aber auch von linken und progressiven Parteien. In Belgien und den Niederlanden beispielsweise streitet man für einen Mindestlohn in Höhe von 14 Euro; und selbst in Luxemburg, wo der Mindestlohn aktuell mit 12,38 Euro nominell relativ hoch liegt, wird um eine strukturelle Erhöhung um zehn Prozent gestritten. Es sind also auch diese Auseinandersetzungen und Kämpfe, die dafür sorgen, dass nun die Mindestlohndebatte auch auf EU-Ebene stattfindet und die EU-Kommission gegebenenfalls mit einem Rechtsakt reagieren muss. Es muss sich etwas ändern an der permanenten Abwärtsspirale für viele und an dem Sozial- und Lohndumping. Denn wenn dem jetzt nicht ein Riegel vorgeschoben wird, wird sich diese Situation weiter zuspitzen.

Schon aus der vergangenen Finanzkrise wissen wir, dass sich Armut trotz Arbeit und prekäre Arbeits- und Lebensverhältnisse ausgeweitet haben. Ein EU-Mindestlohn-Rahmen wäre damit ein erster wichtiger Schritt, um dem entgegenzuwirken. Ebenso notwendig ist die Stärkung von Tarifverhandlungen und Tarifvertragssystemen. Denn im EU-Binnenmarkt wurden Lohndumping begünstigt und Tarifvertragssysteme geschwächt. Mit der Troika-Politik wurden Tarifvertragssysteme insbesondere in den südeuropäischen Ländern sogar zerschlagen. Das Ergebnis liegt auf der Hand: Lediglich in sieben Mitgliedstaaten der EU gibt es eine Tarifbindungsrate von über 80 Prozent, während inzwischen in 14 Mitgliedsstaaten weniger als jeder zweite abhängig Beschäftigte an einen Tarifvertrag gebunden ist.

Bereits jetzt ist etwas mehr als jeder fünfte Mensch in der EU von Armut betroffen oder bedroht. Allein 20,5 Millionen Menschen leben trotz Arbeit in einem von Armut betroffenen Haushalt. Es wird Zeit, dem endlich offensiv entgegenzuwirken. Dazu braucht es allerdings erheblichen Druck, sowohl in Deutschland als auch auf EU-Ebene.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!