- Sport
- 25 Jahre Srebrenica
Die ewige Frage nach der Religion
25 Jahre nach Srebrenica leben die Volksgruppen in Bosnien und Herzegowina weiterhin meist getrennt. Gedenken und Provozieren wechseln einander ab. Auch im Fußball.
In Sarajevo hält die Hoffnung ein bisschen länger. Im Oktober 1991 spielt die Nationalmannschaft Jugoslawiens in der bosnischen Hauptstadt. Zu jener Zeit haben Slowenien und Kroatien bereits ihre Unabhängigkeit vom Vielvölkerstaat erklärt. Auf den Tribünen in Sarajevo aber klatschen 20 000 Zuschauer, vor dem Spiel steigen Friedenstauben auf. Bosnien und Herzegowina war jahrzehntelang die einzige jugoslawische Teilrepublik gewesen, in der keine Bevölkerungsgruppe über eine absolute Mehrheit verfügte. Und das zeigt sich 1991 in Sarajevo: Von den 530 000 Einwohnern sind 49 Prozent Muslime, 30 Prozent Serben, sieben Prozent Kroaten. Keine Gemeinde im Umkreis ist ethnisch homogen, gemischte Ehen sind selbstverständlich.
Nach einem Referendum im März 1992 erklärt sich aber auch die Republik Bosnien und Herzegowina für unabhängig. Die bosnischen Serben wollen das nicht akzeptieren. In jener aufgeladenen Atmosphäre empfängt der Traditionsklub Željezničar in Sarajevo den Verein Rad Belgrad. Am selben Tag besetzen serbische Soldaten eine Polizeiakademie in der Nähe des Stadions. Sie schießen willkürlich auf Zivilisten, auch auf das Stadion. Spieler und Fans können sich in Sicherheit bringen. Über Monate liegt das Stadion direkt an der Front. Scharfschützen verschanzen sich hinter dem Vereinsheim, Tribünen gehen in Flammen auf, der Rasen gleicht einem Krater. Die Belagerung Sarajevos wird fast vier Jahre andauern und mehr als 11 000 Menschen das Leben kosten.
Der Fußball als politisches Instrument. Für Frieden, aber auch für Krieg. Für das Gedenken, aber auch für die Glorifizierung von Verbrechen. So ist es in vielen Ländern, besonders auf dem Balkan. Gerade jetzt, da sich die Welt an das schwerste Kriegsverbrechen in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg erinnert: Vor 25 Jahren ermordeten bosnisch-serbische Soldaten und Milizen in Srebrenica mehr als 8000 muslimische Bosnier, auch Bosniaken genannt. Seit Jahren wird um die Form des Erinnerns gestritten. Provokationen, Feindseligkeit, Ausgrenzung. Wie ein Brennglas darauf: der Fußball.
In Sarajevo sind Kriegsspuren rund um das Stadion von Željezničar noch allgegenwärtig. Häuser mit Einschusslöchern, zersplitterte Fensterscheiben, bröckelnder Putz. Am runderneuerten Stadion erinnert eine Tafel an die Opfer. Seit Jahren besingen die Fans ihr geschundenes Viertel und präsentieren in Choreografien mitunter kämpfende Soldaten. Sie organisieren Gedenkturniere für Dževad Begić Džilda. Der Fan-Anführer wollte 1992 eine angeschossene Frau retten, dabei wurde er selbst von einem Scharfschützen getötet. »Für alle pro-bosnischen Fangruppen hat das Gedenken eine identitätsstiftende Rolle«, sagt der Leipziger Politik- und Kulturwissenschaftler Alexander Mennicke. Auf vielen Graffitis in Sarajevo sticht eine Botschaft hervor: »Kein Vergeben, kein Vergessen!«
Während des Bosnienkrieges wurden rund 100 000 Menschen getötet, mehr als zwei Millionen flohen oder wurden vertrieben. Nach dem Dayton-Abkommen 1995 wurde die ehemalige jugoslawische Teilrepublik Bosnien und Herzegowina endgültig unabhängig und in zwei Teilgebiete getrennt: Die von Muslimen und Kroaten regierte Föderation Bosnien und Herzegowina erhielt 51 Prozent des Territoriums und damit eine symbolische Mehrheit. Der serbisch dominierten Republika Srpska wurden 49 Prozent zugesprochen. Inzwischen leben Bosnier mit muslimischen, serbischen und kroatischen Wurzeln nicht mehr miteinander, sondern in Gemeinden voneinander getrennt - auch im Fußball, sagt der Reporter Semir Mujkić vom Investigativnetzwerk »Birn«: »Nationalistische Politiker nutzen Vereine als Plattform. Häufig spannen sie Fans für ihre Demos ein oder beauftragen sie als Sicherheitskräfte. Immer wieder werden in den Stadien Kriegsverbrecher glorifiziert.«
Zum Beispiel Ratko Mladić. Der bosnisch-serbische General war verantwortlich für ethnische Säuberungen - und für das Massaker von Srebrenica. Mladić wurde 2017 wegen Völkermordes zu lebenslanger Haft verurteilt. Fans des FK Borac in Banja Luka, dem Regierungssitz der Republika Srpska, feierten Mladić und verhöhnten die bosnischen Opfer der Massenexekutionen. Ihr Spruch: »Messer, Stacheldraht, Srebrenica«.
Dženan Đipa möchte trotzdem das Verbindende in der Gesellschaft betonen, nicht das Trennende. Im Fußballverband von Bosnien und Herzegowina ist Đipa für soziale Projekte verantwortlich. Als Ort für das Interview hat er in Sarajevo ein Café am Rande des altosmanischen Basarviertels vorgeschlagen; in der Nähe befinden sich Moscheen, eine katholische Kathedrale, eine orthodoxe Kirche und eine Synagoge. »Wir sind ein kleines Land«, sagt Đipa. »Wenn wir in Wirtschaft, Kultur oder Fußball erfolgreich sein wollen, müssen wir zusammenarbeiten.«
Als geografisches Zentrum des westlichen Balkans werden Bosnien und Herzegowina seit Generationen von Bosniaken, Kroaten und Serben beansprucht. Um allen Forderungen gerecht zu werden, wurde der Staat nicht nur in zwei Teilgebiete, sondern auch in 14 Regionen gegliedert, mit 14 Parlamenten. Dem obersten Staatspräsidium gehören ein muslimischer, ein kroatischer und ein serbischer Vertreter an, alle acht Monate wechselt der Vorsitz. »Es ist unsere größte Herausforderung, Kompromisse zu schließen«, sagt Dženan Đipa. »Auch im Fußball.«
Nach dem Krieg war die Abneigung untereinander dafür noch zu stark gewesen. Bosniaken, Serben und Kroaten trugen zunächst ihre eigenen regionalen Meisterschaften aus, erst Anfang des Jahrtausends kamen sie nach langen Verhandlungen in einer Profiliga zusammen. Nach den Regeln der Fifa darf der Fußballverband von Bosnien und Herzegowina nur einen Präsidenten haben, zumindest im Vorstand aber sind die drei großen Bevölkerungsgruppen mit jeweils fünf Sitzen vertreten.
Auch der Aufbau des Nationalteams wurde von Streit überschattet. Sergej Barbarez etwa spielte ab 1996 zwölf Jahre erfolgreich in der deutschen Bundesliga, unter anderem für Hansa Rostock, Borussia Dortmund und den Hamburger SV, doch aus seiner Heimat Bosnien und Herzegowina lehnte er Länderspiel-Einladungen zunächst ab. Der Grund: Seine kroatischstämmige Mutter wurde von Nationalisten bedroht. Immer wieder boykottierten Spieler das bosnische Nationalteam. Nach ihrer Einschätzung legte der Verband mehr Wert auf Nationalitäten der Spieler als auf ihre Talente.
Noch heute bestreitet die Nationalmannschaft ihre Heimspiele in Zenica oder Sarajevo, in Städten mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit. Ein Auftritt im serbisch geprägten Banja Luka ist unrealistisch. »Wir sollten uns mehr um die Jugend kümmern, die mit dem Krieg nichts zu tun hat«, sagt Dženan Đipa und zeigt auf seinem Handy Fotos von gelungenen Sportfesten. »Der Fußball kann den Zusammenhalt fördern, Religion spielt auf dem Rasen keine Rolle.« Es seien weniger die Kinder, auf die er behutsam einreden müsse, sondern eher deren Eltern.
Ist in dieser komplizierten Lage Versöhnung möglich? Vielleicht hat Robert Prosinečki eine Antwort. Der Sohn eines kroatischen Vaters und einer serbischen Mutter hat als einziger Spieler für zwei Länder WM-Tore geschossen, 1990 für Jugoslawien und 1998 für Kroatien. Bis Ende 2019 trainierte Prosinečki die Nationalmannschaft von Bosnien und Herzegowina, er sagt: »Der Krieg war schlimm, das werden wir nie vergessen, aber es muss weitergehen. Junge Leute wollen einen Job, viele gehen schon mit 14 oder 15 nach Westeuropa.«
Auch Prosinečki musste sich als Nationaltrainer schon mit der Politik beschäftigen. Einer seiner Auswahlspieler, Ognjen Vranješ, geboren in Banja Luka, ließ sich den Grenzverlauf der Republika Srpska auf den Arm tätowieren, zudem ein Tattoo von Momčilo Đujić. Der serbische Priester hatte im Zweiten Weltkrieg mit den Nazis kollaboriert. Für muslimische Bosnier sind das unerträgliche Provokationen. Prosinečki warf ihn 2019 aus der Mannschaft.
Heute möchte der Nationaltrainer über Themen sprechen, die Hoffnung verbreiten. 2014 bestritt die Nationalmannschaft von Bosnien und Herzegowina ihre bislang einzige WM in Brasilien. Gleich im ersten Spiel verlangte sie Argentinien einiges ab, unterlag aber 1:2. Auch Serben und Kroaten haben dafür Respekt gezollt. »Da geht noch viel mehr«, sagt Prosinečki. »Fußball ist das beste Marketing der Welt.« Vielleicht gibt es sie irgendwann wieder, die Solidarität unter Nachbarn. Vielleicht sogar mit dem einen oder anderen Freundschaftsspiel.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.