- Kultur
- Coronakrise
Ich schau dir in die Augen, Systemrelevanz!
Applaus oder Werkverträge? Ein Querschnitt durch die Solidarität während der Pandemie.
»Eine Welt, die das Tadsch Mahal, Shakespeare und gestreifte Zahnpasta hervorbringt, kann so übel nicht sein.« Es ist hilfreich, diesen Satz im Ohr zu haben, den der Filmregisseur Billy Wilder seinem Westberliner Coca-Cola-Fabrikanten Mc Namara in dem Film »Eins, zwei, drei« (1961) als Argument gegen den Kommunismus in den Mund legt, wenn man der andauernden Diskussion über »systemrelevante« Berufe und Strukturen folgt, die sich im Zuge der Pandemie in Deutschland entwickelt hat. Auf den ersten Blick wirkt die gestreifte Zahnpasta neben Shakespeare und dem Tadsch Mahal wie eines jener sehr einfach zu lösenden Rätsel, in denen das Erkennen sowie das Verstehen von Reihenlogiken abgefragt wird - »Welcher Begriff passt nicht dazu?« - und die in jedem der zahlreichen on- und offline verfügbaren »Intelligenztests« standardisiert vorkommen. Dabei ist in diesem Satz fast alles enthalten, was es über den Kapitalismus zu wissen gilt: die sogenannte »Innovationskraft« des Kapitalismus, die, um immer weiter und immer mehr verkaufen zu können, »Neues« produziert (Zahnpasta, jetzt auch gestreift!); die Art und Weise, in der sich der Kapitalismus alles einverleibt und zu eigen macht - das Tadsch Mahal und Shakespeares Werke sind durchaus nichts, was der Kapitalismus hervorgebracht hat - und damit alles gleichermaßen seiner Verkaufsregel unterwirft: Kunst und Kultur sollen einzig dem Zweck der »Markenbildung« fürs Städtemarketing dienen; die Anzahl der verkauften Tickets wird zum Gradmesser der Qualität eines Kunstwerks.
Während es bei Greta Garbo in Ernst Lubitschs »Ninotschka«, einem Film, der 30 Jahre früher entstand, noch der Raffinesse der französischen Haute Couture in Form eines extravaganten Hütchens bedurfte, um die linientreue kommunistische Parteifunktionärin zu verführen, reicht bei Billy Wilder der Verweis auf die Zahnpasta, ein profanes Alltagsprodukt, das »neu«, weil jetzt auch gestreift ist, um die Überlegenheit des kapitalistischen Systems zu demonstrieren.
»Systemrelevanz« ist ein Begriff mit einer Doppelbedeutung. Einerseits umschließt er diejenigen Arbeitsfelder, ohne die kein Mensch (über)leben könnte, andererseits sind aber auch diejenigen Personen »systemrelevant«, die dazu beitragen, dass das System überleben kann. Sieht man sich die staatlichen Förder- und Hilfsmaßnahmen einmal nach diesen Kriterien an, so ist ganz offensichtlich, dass vor allem diejenigen gefördert werden, die als relevant für das Weiterbestehen des Systems gelten, also Unternehmen wie Lufthansa oder solche der deutschen Autoindustrie, während diejenigen Personen, die für die Menschen relevante Arbeit leisten, die sich also beispielsweise um die Kranken, die Alten und die ganz Jungen kümmern und die dafür sorgen, dass Städte und Gebäude nicht in Dreck und Müll ersticken, die Obst und Gemüse ernten und Schweine, Kühe und Hühner schlachten, die die Waren sortieren, verpacken, ausliefern und verkaufen, außen vor bleiben. Nahezu alle der auf den im Zuge der Pandemie erstellten Listen aufgeführten Berufe, die für die Menschen überlebensnotwendig sind (und die von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich ausfallen), sind solche im Niedriglohnsektor. Diese sind nicht nur außerordentlich schlecht bezahlt, die Beschäftigten werden zusätzlich regelmäßig gegängelt und schikaniert: Das reicht von der illegalen Überwachung der Umkleideräume und Spinde über die sogenannte »Gesundheitsprämie«, mit der die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall konterkariert wird und die dazu führt, dass die Angestellten krank zur Arbeit erscheinen (und also ansteckend sind), bis hin zu mafiösen Methoden, mit denen sowohl der gesetzliche Mindestlohn als auch die Vorgaben zum Arbeitsschutz umgangen werden.
Ein Fehler »neuer Klassenpolitik«
Dass diese »Systemrelevanten« während der Pandemie einem erhöhten Ansteckungsrisiko ausgesetzt waren und sind - viele haben sich mit dem Virus an ihren Arbeitsstätten angesteckt und nicht wenige sind daran gestorben -, sollte niemanden verwundern. Weil das besondere Augenmerk während der Pandemie auf die »Helden der Krise« gerichtet war, hofften nicht wenige, dass die Arbeitsbedingungen für diejenigen, die in den »systemrelevanten« Berufen arbeiten, verbessert werden. Doch das Gegenteil ist der Fall: Die Arbeitszeiten wurden ausgedehnt, und statt die Gehälter zu erhöhen oder zumindest eine Corona-Prämie einzuführen, wurde in Bayern ein Notstandsgesetz verabschiedet, das es dem Staat erlaubt, Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegepersonal zur Zwangsarbeit zu verpflichten.
Während für die Beschäftigten in der Pflege, im Supermarkt und im Einzelhandel eine Zeit lang allabendlich applaudiert wurde, wurde den Schlachthofarbeitern bei Tönnies die Autos, erkennbar am rumänischen Kennzeichen, angezündet; von der Dankbarkeit, die eine Zeit lang im von den Balkonen aus gespendeten Beifall ihren Ausdruck gefunden hat, blieben sie ebenso ausgeschlossen wie die Saisonarbeiter in der Landwirtschaft. Wer jetzt meint, dass für diese unterschiedlich große Wertschätzung von »Systemrelevanz« vor allem rassistische Gründe vorliegen, der übersieht, dass auch in den anderen Bereichen des Niedriglohnsektors, vor allem in der Pflege, ein hoher Anteil an ausländischen Arbeitskräften beschäftigt ist. Dass hier die Anerkennung unterschiedlich groß ausfällt, liegt eher darin begründet, dass es für eine Mehrheit weder vorstellbar noch wünschenswert ist, das zugrundeliegende Gesellschaftssystem zu verändern. Es ist ein Fehler der sogenannten »neuen Klassenpolitik«, anzunehmen, dass es gegenwärtig eine Arbeiterklasse mit einem gemeinsamen Klasseninteresse gäbe, das auf eine Veränderung des Gesellschaftssystems hinausläuft. Das ist identitär gedacht. Wenn in den Großschlachtereien nicht mehr Rumänen und Bulgaren zu Dumpinglöhnen im Akkord schlachten, dann wird das Schnitzel oder die Bratwurst teurer, was den Interessen aller anderen Beschäftigten zuwiderläuft, bleibt ihnen doch dann weniger von ihrem eigenen Gehalt übrig. Man hat es hier nicht nur mit grundsätzlich unterschiedlichen Interessen zu tun, der Konflikt unter den Arbeitnehmern wird dann auch noch verstärkt, indem er rassistisch aufgeladen wird. »Der Staat ist verpflichtet, seine Bürger und Bürgerinnen zu schützen, er ist verpflichtet zu verhindern, dass Familienväter und Frauen arbeitslos werden, weil Fremdarbeiter zu niedrigen Löhnen ihnen die Arbeitsplätze wegnehmen.« Es war kein Politiker der AfD, sondern Oskar Lafontaine, der bereits 2005 den »Fremdarbeiter« gegen den »deutschen Arbeiter« ausspielte, um über Strukturfragen nicht sprechen zu müssen. Mittels rassistischer Zuschreibungen wird jenen Arbeitskräften, die aus wirtschaftlich abgehängten, ärmeren Ländern stammen - in denen die Hungerlöhne, die in den betreffenden deutschen Betrieben gezahlt werden, zu einem halbwegs auskömmlichen Leben im Herkunftsland reichen -, auch noch die Schuld an eben diesen schlechten Löhnen und Arbeitsbedingungen zugeschoben.
Der Wille zur Veränderung
Im Gegensatz dazu setzte aufgrund der Pandemie-Erfahrung, was das Krankenhauswesen angeht, bei einer deutlichen Mehrheit der Bevölkerung ein Umdenken in Fragen des Systems ein. Einer aktuellen Forsa-Studie zufolge finden 96 Prozent, dass die Patientenversorgung im Mittelpunkt stehen soll, demgegenüber halten nur 2 Prozent die »Wirtschaftlichkeit« von Krankenhäusern für wichtiger. Dass eine Änderung des Systems, auf das Gesundheitswesen bezogen, für eine Mehrheit möglich erscheint, hat zwei Gründe: Zum einen wurden Krankenhäuser relativ spät privatisiert.
Der sogenannte Bereich der »Daseinsvorsorge«, der neben dem Gesundheitswesen auch die Gas-, Wasser- und Elektrizitätsversorgung, den öffentlichen Verkehr, Müllabfuhr und Abwasserbeseitigung, Bildungs- und Kultureinrichtungen wie Schulen, Theater und Bibliotheken, die Post und das Telefonwesen, aber auch Einrichtungen wie Friedhöfe und öffentliche Bäder umfasste, war lange Zeit dem Marktgeschehen entzogen und lag in staatlicher Hand. Erst seit 1980 wurde dieser Bereich sukzessive privatisiert. Hingegen wurden Kliniken erst ab dem Jahr 2000 in großem Stil den allgemeinen Marktmechanismen unterworfen. Diesen Schritt wieder rückgängig zu machen, erscheint ebenso machbar wie die Rekommunalisierung von Wasserbetrieben oder Energieversorgungseinrichtungen.
Der andere Grund, warum es möglich scheint, das Gesundheitswesen wieder dem Markt zu entziehen, besteht sehr schlicht darin, dass das Heilen von Krankheiten - wie das Tadsch Mahal und Shakespeares Werke - etwas grundsätzlich Anderes sind als gestreifte Zahnpasta. Zumindest das hat durch die Pandemie-Erfahrung eine Mehrheit verstanden, ausgedrückt im Beifall, der von den Balkonen und geöffneten Fenstern gespendet wurde. Ob dieser Wille zur Veränderung länger anhalten wird als der Applaus, wird sich noch zeigen.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.