Die Abwesenheit
Mit dem Verschwinden und der Leere in den Filmen Chantal Akermans beschäftigt sich ein neues Buch
Jede Leere hat ihre eigene Form, ihre eigene Gestalt. Abwesenheit ist keine abstrakte Kategorie. Immer ist es jemand Konkretes, etwas Konkretes, das abwesend ist. In der Einsamkeit fehlen Menschen, in der Stille fehlt der Klang. Allumfassend ist die Leere nach dem Völkermord. Es fehlen Menschen; es fehlen viele Menschen; sie fehlen einzeln und in ihrer Summe, und es fehlen ihre Strukturen, die sie sich zum Leben geschaffen haben. All das, was verschwindet, hinterlässt Spuren, in der materiellen Welt, im Gedächtnis, schließlich in den Gedanken um das Verschwinden. Das bedeutet, dass jegliches Verschwindenlassen von Spuren neue Spuren produziert. Film ist zweifelsohne jenes Medium, das der Leere am nächsten kommt, da es neben Bild und Ton über die Dimension der Zeit verfügt. Es gibt nichts zu sehen, nichts zu hören, und es geschieht nichts. Selbstverständlich aber sieht es auf seine Weise aus, dass nichts ist, hört es sich auf seine Weise an, dass nichts zu hören ist, und muss etwas passieren, damit eben nichts passiert.
Über das Verschwinden und die Leere in den Filmen der belgischen Regisseurin Chantal Akerman ist nun in der neuen Filmbuchreihe des Leipziger Spector-Verlags ein sehr schönes kleines Buch erschienen. Autorin ist die 1979 in Berlin geborene Tine Rahel Völcker, die vornehmlich Stücke für Radio und Theater verfasst. Ihr Buch ist weder journalistisch noch filmwissenschaftlich. Es ist ein literarisches Werk, in dem die Autorin sich mit einigen Filmen Akermans im Gepäck ins südpolnische Städtchen Tarnów begibt, aus dem die Eltern der Filmemacherin stammten. Diese gehörten dort der jüdischen Gemeinde an, die mit etwa 30 000 Personen einen Großteil der Gesamtbevölkerung von Tarnów ausgemacht hatte. Etwa die Hälfte von ihnen floh, während die andere Hälfte zunächst im Tarnówer Ghetto interniert, ab 1942 in die Vernichtungslager Bełżec, später Ausschwitz deportiert wurden. Völcker spürt in Tarnów den filmischen Motiven ihrer Protagonistin nach, die auf die eine oder andere Weise im Verschwinden der jüdischen Bevölkerung gründen. Akermans Mutter wurde nach Auschwitz deportiert, ihr Vater blieb versteckt in Krakau. Nach der Befreiung verließen beide Polen und flohen nach Belgien, wo 1950 ihre Tochter Chantal zur Welt kam.
Die Beziehung zu ihren Eltern, vor allem zu ihrer Mutter, spielt in Akermans Filmen immer wieder eine große Rolle. 1968 zog sie zunächst für ein Studium der Theaterwissenschaften nach Paris, wo sie sie bis zu ihrem Selbstmord 2015 lebte. Ihre Filme handeln häufig von Kämpfen um weibliche Autonomie, oft sind sie autobiografisch, oft ist sie darin selbst zu sehen. Einer der Filme, den Völcker in ihrem Buch bespricht, ist das 1977 während eines längeren Aufenthaltes in New York entstandene Werk »News from Home«. Die Kamera bewegt sich durch leere Straßenzüge in Manhattan. Immer wieder hört man Akerman aus dem Off die drängenden Briefe verlesen, die ihre Mutter aus Paris geschickt hat - sie werde vermisst, solle öfter und ausführlicher schreiben, man träume von ihrer Rückkehr. Es sind die Briefe einer Frau, für die Wiederkehr und Wiedersehen ihre Selbstverständlichkeit verloren haben.
Akermans Filme spielen selten draußen; häufig zieht sie sich mit ihrer Kamera in den klaustrophobischen Schutz privater Räume zurück. In ihrem ersten Film, »Saute ma ville«, den sie 1968 in der elterlichen Küche aufgenommen hatte, sprengt sie sich (und, dem Titel zufolge, die ganze Stadt gleich mit) in die Luft. In »La chambre« lässt sie eine Kamera sich Mal um Mal in ihrem Zimmer um ihre eigene Achse drehen. Alle paar Sekunden passiert der Blick das Bett, in dem die Filmemacherin nach und nach erwacht. Auch Tine Rahel Völcker zieht sich für ihre Forschungsarbeit in den Innenraum des Außenraums zurück, das Bett in ihrem Zimmer in Tarnów. In einem kleinen Poem, das sie als Einleitung geschrieben hat, heißt es, das Buch sei im Bett entstanden, um im Bett gelesen zu werden.
Tine Rahel Völcker reist im Winter nach Tarnów, um sich dort auf vielfache Weise mit der Leere aus den Filmen Akermans konfrontiert zu sehen. Die 100 000 Einwohner zählende Gemeinde in der konservativen, katholischen Region Małopolska eröffnet ihr gleich eine ganze Bandbreite an Leere. So wirkt die Stadt menschenleer, leer an Kultur und Perspektive. Auf der Straße ist kaum jemand zu sehen, hinter Vorhängen entdeckt die Autorin immer wieder eine Gestalt, und einzig der Taxifahrer Albert, den sie bei ihrer Ankunft am Bahnhof anheuert, kennt ein Leben außerhalb, er hat über Jahrzehnte in den USA gelebt. Völcker entdeckt in dem Ort Tarnów aber noch eine andere Leere: Schließlich wurde vor 77 Jahren die Hälfte seiner Bevölkerung mitsamt ihrer wirtschaftlichen, religiösen und kulturellen Strukturen vernichtet. Leer aber wirkt Tarnów auch in Bezug auf das Gedächtnis gegenüber diesem herben Verlust. Die Autorin begibt sich auf der Suche nach dem jüdischen Leben der Stadt in das kommunale Museum und findet dort zwischen einer imposanten Sammlung antiker Jagdwaffen und königlichem Porzellan eine einzelne Vitrine, in der zwei Chanukkaleuchter, drei Thorarollen, ein Schächtermesser und eine Urkunde über die Bürgerrechte der Tarnówer Juden aus dem Jahr 1667 befindet. Die Autorin registriert diese Leere und befragt die Aufseherin des Museums: »Das ist alles, was von 500 Jahren jüdischen Lebens in Tarnów geblieben ist?« Die Museumswärterin »nickt, zuckt bekümmert mit den Schultern, sie würde mir gerne mehr bieten«. Das ist einer jener Momente, in denen die Abwesenheit der Spuren jüdischen Lebens selbst Spuren produziert, die misstrauisch machen müssen: »Oder hat sich die andere Hälfte der Stadt an den Hinterlassenschaften der ermordeten Hälfte bereichert, und rührt auch daher ihr Schweigen um deren gewalttätiges Verschwinden?«
»D’Est« ist der Titel eines Films, in dem Akerman sich auf die Spuren ihrer Eltern begibt. Sie unternimmt eine Reise durch die ehemaligen Länder des Ostblocks. »Es könnte emotionale Gründe haben«, erklärt sie ihre Unternehmung. Sie reist von Ostberlin über Polen nach Moskau und zeigt schweigende Menschen bei alltäglichen Dingen, wie Feldarbeit, Kochen und Warten. Es gibt keine Dialoge und keine Stimme aus dem Off. Die Kuratorin Cathrine David bezeichnete den Film als weder dokumentarisch noch fiktional, sondern durch seinen speziellen Rhythmus als genreverbindend. Akerman sucht nach Spuren ihrer Herkunft und es bleibt unklar, ob sie fündig wird. Völcker schreibt, sie musste, selbst suchend, nach Tarnów reisen, um die Bedrückung des Films nachvollziehen zu können. Auf eine ähnliche Weise beginnt sie selbst die Gesichter ihrer Mitreisenden im Bus nach Buczyna wahrzunehmen. Der Wald von Buczyna gehört zu jenen Orten, an denen die Deutschen jüdische Kinder hingerichtet haben. Auf ihrer Fahrt dahin mustert die Autorin also alle Details, bis sie bei ihrer Ankunft auf eine Gedenkfeier jüdischer Jugendlicher trifft. Unter Girlanden und Luftballons, die sie um einen Gedenkstein herum arrangiert haben, hören sie hebräische Popmusik. In all der Leere diese plötzliche Überfülle an Spuren überfordert die Autorin schließlich - sie sucht das Weite.
Tine Rahel Völcker: Chantal Akermans Verschwinden. Spector Books Leipzig, brosch., 159 S., 18 €.
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