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Das andere Bayern
Im oberfränkischen Arzberg stemmt man sich gegen den Bevölkerungsschwund
Nein, heute wehen keine Nebel durch die menschenleeren Straßen von Arzberg, in denen die Häuserruinen ausgeschlagenen Zähnen gleichen. So hatte ein Reporter vor sechs Jahren die oberfränkische Stadt nahe Wunsiedel beschrieben. Seit der Pleite der örtlichen Porzellanfabrik erlebte diese einen beispiellosen Niedergang. Arzberg war die Stadt Bayerns mit den höchsten Einwohnerverlusten. Lebten hier 1990 noch 7000 Menschen, sollten es 2020 Prognosen zufolge nur noch 4716 sein. Doch die Stadt hat sich ein wenig gefangen. »Wir haben seit einigen Jahren eine Bevölkerung von um die 5000 Personen«, sagt Bürgermeister Stefan Göcking. Und: »Wir sind gerade dabei, uns neu zu erfinden.«
Bayern, das ist Laptop und Lederhose, BMW und ein Fußballklub, Kühe und Berge, Wälder und blauer Himmel. Ein Paradies, verkündete Horst Seehofer, als er noch Ministerpräsident des Freistaates war. Das Klischee brach sich schon immer an der Realität, zum Beispiel der Realität der Kleinstädte ohne Wirtshäuser und einer verödenden Innenstadt, weil die Leute beim Discounter auf der grünen Wiese einkaufen und der Einzelhandel stirbt. Am wenigsten aber passt dieses Klischee zu Oberfranken, jener Region ganz im Norden Bayerns. Hier wandern die Menschen ab, weil nach und nach die Industrien weggebrochen sind.
Arzberg, das ist eine solche Kleinstadt ganz im Norden, nahe der tschechischen Grenze, zwischen Wunsiedel und Waldsassen gelegen. Die Stadt schmiegt sich in einen Talkessel, früher gab es in der Gegend auch Bergbau. Bis in die 1990er Jahre hinein malochten hier fast alle arbeitsfähigen Einwohner in der örtlichen Porzellanfabrik. Als im Jahr 2000 die Produktion nach Schirnding verlagert und das Werk dichtgemacht wurde, traf das die Stadt wie ein Tiefschlag. Die weggebrochenen Arbeitsplätze konnten nicht ersetzt werden, 2003 wurde auch das Kohlekraftwerk Arzberg stillgelegt. Von da an ging es mit der Stadt bergab. Menschen zogen fort, das Krankenhaus wurde geschlossen, für die Mittelschule gab es nicht mehr genügend Schüler, immer mehr Läden und Häuser standen leer.
Eine Entwicklung setzte ein, die die ganze Region betrifft. Bis auf Bamberg wird für alle Landkreise in Oberfranken ein anhaltender Bevölkerungsrückgang prognostiziert, wenn auch die Rückgänge geringer geworden sind. So soll die Einwohnerzahl im Landkreis Kronach bis 2038 um 11,8 Prozent schrumpfen, im Landkreis Hof um 9,4 Prozent, im Landkreis Wunsiedel um 11,4 Prozent, in Landkreis Tirschenreuth um 7,7 Prozent - alles Regionen entlang der Grenze zu Tschechien und Thüringen. Das hier ist das andere Bayern, ärmer, düsterer, einfacher als der Süden. Vor dem Desaster der Porzellanindustrie sind schon die Arbeitsplätze in den Schuh- und Textilfabriken weggebrochen.
Zum Beispiel in Burgkunstadt. Die Stadt war früher eine Hochburg der Schuhindustrie, geblieben ist davon ein Schustermuseum. Heute werden die ehemaligen Fabrikhallen von einem Versandhaus genutzt. Im Stadtkern selbst stehen Läden und Gaststätten leer, zum Einkaufen fahren die Leute zu den Supermärkten an der Bundesstraße. Und der örtliche Bahnhof ist gewiss kein Aushängeschild für die Stadt: Das Erdgeschoss mit der Wartehalle ist zugemauert, auf dem Bahnsteig tropft das Wasser von der Überdachung auf den Boden, der erste Stock ist privat vermietet.
Doch zurück nach Arzberg. »Die Stimmung war nicht gut«, sagt Bürgermeister Stefan Göcking rückblickend, »das waren harte Jahre.« Er sitzt seit 16 Jahren für die SPD im Rathaus, Arzberg hat eine lange Arbeitertradition. Die Depression - »das war eine Art Schockstarre« - hat einige Zeit angedauert, dann haben sie beschlossen, sich gegen den Niedergang und die Prognosen zu stemmen. Freilich keine leichte Aufgabe. »Wir können nicht eine alte Industriestadt von heute auf morgen in ein Touristenziel verwandeln«, sagt der Bürgermeister. Aber es ist schon einiges geschehen, nicht zuletzt dank der Fördergelder von Bund und Land. Dieses Jahr umfasst der Haushalt der Stadt rund 24 Millionen Euro.
Ein Problem für Stefan Göcking sind die leer stehenden, dem Verfall ausgesetzten Häuser. Häufig schlagen Nachkommen angesichts des baulichen Zustands der Gebäude ihr Erbe aus, dann fallen die Häuser an die Stadt. Einige der Ruinen hat der Bürgermeister abreißen lassen, an ihrer Stelle befinden sich jetzt kleine grüne Biotope, die auch als Parkplatz dienen. An einem Hang wurden an der Stelle der alten Bruchbuden Terrassengärten angelegt, im September vergangenen Jahres haben sie hier ein Weinfest gefeiert. Den Bergbräu, das hiesige Wirtshaus, hat die Stadt zu einem Kulturzentrum umgebaut, doch derzeit gibt es keinen Pächter. »Die Coronakrise macht uns schon zu schaffen«, sagt Göcking. Rund 30 leer stehende Häuser in der Innenstadt weist der Sanierungsplan von 2018 nach; dort ist zu lesen: »Die Einwohnerverluste der vergangen zwei Dekaden haben insbesondere im Ortszentrum von Arzberg zu Leerständen in Wohnungen geführt. Darüber hinaus führen die Entwicklungen im Einzelhandel mit einem zunehmenden Wachstum des Onlinehandels sowie dem Rückgang von inhabergeführten, kleinflächigen Geschäften zu einer Vielzahl von Leerständen in ehemaligen Ladenlokalen und Erdgeschosszonen.« »Aber«, sagt der Bürgermeister, »wir können nicht einfach den ganzen Leerstand abreißen, das verträgt eine Stadt nicht.«
Oben auf dem Gelände der ehemaligen Porzellanfabrik gähnen die leeren Fensterhöhlen in dem alten Fabrikgebäude. Für den sanierten Gebäudeteil werden neue Firmen gesucht. Ein Arbeitslosenproblem gebe es in der Stadt eigentlich nicht, sagt Göcking. Die Leute im arbeitsfähigen Alter seien halt weggezogen. Arbeitsplätze bieten heute eine Wurstfabrik und eine holzverarbeitende Firma. Auch Porzellan wird noch verkauft, im Outlet-Center, die Ware selbst wird in Selb hergestellt.
Inzwischen ist gar ein kleines Wunder eingetreten, denn es gibt sogar wieder Zuzug in der Stadt. Weil vielen Menschen das Leben in Großstädten wie München oder Berlin zu teuer geworden ist, ziehen Senioren jetzt in die Regionen, in denen Häuser oder Mietwohnungen noch erschwinglich sind. Das Stadtcafé an der Rathausstraße 18 ist Zeugnis dieser Entwicklung. An diesem Donnerstagnachmittag ist die Stadt bei feinem Nieselregen eigentlich fast menschenleer, doch vor dem Café weist ein Schild hin: »Geöffnet.« Drinnen warten Konditor Peter Willer und seine Frau Annelie auf Gäste. Seit der Coronakrise kommen immer weniger Menschen. Das Ehepaar hat früher in München gewohnt, dann bei Ingolstadt. Vor sieben Jahren haben die beiden das Haus an der Rathausstraße gekauft und das Café eröffnet. In einem Eckschrank ist heimisches Porzellan ausgestellt, an einer Wand hängen Plakate mit dem Konterfei des Komponisten Paul Lincke, Vater der Berliner Operette. Konditormeister Peter Willer redet gerne mit seinen Gästen und weiß, »dass um die Ecke ein Haus an Norddeutsche verkauft wurde«, die Immobilienpreise seien eben günstig. Auch die Mieten. Neben dem Rathaus ist ein Neubau geplant, mit gehobener Ausstattung. Mietpreis pro Quadratmeter: sieben Euro. »Davon können Mieter in München nur träumen. Bei den Altbauten liege der Mietpreis bei zwei bis drei Euro pro Quadratmeter«, sagt der Bürgermeister.
Freilich, die Mieten alleine machen es nicht. So gibt es in Arzberg gerade mal zwei Hausärzte, für weitergehende medizinische Behandlung muss man nach Marktredwitz oder gar nach Weiden fahren. Ob der Zuzug von Senioren ausreicht, um die weitere Abnahme der Bevölkerung zu verhindern, ist ungewiss. Hoffnung setzt man in Arzberg auf eine andere Entwicklung: Es gibt wieder mehr Kinder. Jetzt soll gar ein neuer Kindergarten gebaut werden.
So schwankt die Stadt zwischen der Altlast der industriellen Vergangenheit und dem Versuch eines Neuanfangs. Sanierungsbedürftige Häuser stehen neben den Ladestationen für Elektroautos, alte Industriebauten neben neu geschaffenen Biotopen. Dass die Einwohnerzahl derzeit etwa gleich bleibt, spiegelt diese Entwicklung wider. Gleichwohl ist das Gefälle zum bayerischen Süden noch deutlich greifbar. Doch der Reichtum der anderen ist für den Norden auch eine Chance. So werden die Fördergelder möglich, die er zur Entwicklung braucht. Wie Arzberg. Eine Stadt, die sich auf den Weg in eine neue Zukunft macht.
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