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Nie wieder »Rosa Winkel«
Am 25. Juli wird in Berlin auch der homosexuellen NS-Opfer gedacht
Wenn sich am 25. Juli im Rahmen des virtuellen Christopher Street Days trotz Corona möglichst viele Menschen auch am Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen in Berlin-Tiergarten einfinden, so ist das inzwischen auch ein ermutigendes Zeichen von Normalität. Für diesen Tag haben die Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas und der Lesben- und Schwulenverband Berlin-Brandenburg zu einer besonderen Art der Gedenkveranstaltung für die homosexuellen Opfer des Nationalsozialismus eingeladen.
Am Denkmal in der Ebertstraße werde es »aufgrund der aktuellen Pandemie keine Reden« und auch »keine Zusammenkunft in großer Gruppe« geben, teilten die Veranstalter mit. »Vielmehr werden alle Menschen aufgerufen, im Laufe des Tages individuell Blumen und Kränze niederzulegen.«
Das 2008 eingeweihte Denkmal selbst ist Teil dieser vom Lesben- und Schwulenverband und anderen Initiativen erkämpften Normalität. Waren doch die Homosexuellen als Opfer des NS-Staates nach 1945 lange Zeit schamhaft verschwiegen oder bestenfalls im Zusammenhang mit anderen ebenso gnadenlos verfolgten Minderheiten wie Sinti und Roma geehrt worden. Viel zu lange hatte der sogenannte Homosexuellen-Paragraf, der sexuelle Handlungen zwischen Personen männlichen Geschlechts als etwas angeblich Widernatürliches unter Strafe stellte, auch noch im Nachkriegsdeutschland Bestand. Während in der DDR Ende der 1950er Jahre die strafrechtliche Verfolgung von homosexuellen Erwachsenen faktisch eingestellt und der entsprechende Paragraf 1989 abgeschafft wurde, wurde der Paragraf 175 im Strafgesetzbuch der Bundesrepublik erst 1994 ersatzlos gestrichen.
Dass die gesetzliche Rehabilitierung der Opfer des Paragrafen 175 aus der NS-Zeit erst 2002 erfolgt ist, belegt, wie erschreckend schwer sich selbst das wiedervereinigte Deutschland mit ihren homosexuellen Mitbürgern tat. Erst danach konnten Hunderttausende - die so lange Entrechteten, ihre Angehörige und Nachkommen - wirklich in der Bundesrepublik ankommen.
Der Paragraf 175 stand erstmals im Reichsstrafgesetzbuch von 1872 und stellte neben gleichgeschlechtlichen Handlungen unter Männern auch verschiedene andere Tatbestände unter Strafe. Bis zu dessen Streichung wurden insgesamt 140 000 Menschen auf seiner Grundlage verurteilt.
Als die Nationalsozialisten 1933 an die Macht gelangten, nahm auch die Verfolgung von Homosexuellen bis dahin nicht gekannte Ausmaße an. Die Gestapo führte ab Dezember 1934 in Berlin systematische Razzien gegen Homosexuelle durch. Vermutlich mehrere Tausend homosexuelle Männer wurden in den Folgemonaten verhaftet, in die frühen Konzentrationslager verschleppt, gedemütigt und misshandelt. Nachdem man viele von ihnen zunächst entlassen musste, verschärften die Nationalsozialisten 1935 den Paragrafen 175, indem sie den Straftatbestand der Homosexualität erweiterten und die Betroffen damit völliger Willkür aussetzten.
Im Oktober 1936 ließ SS-Führer Heinrich Himmler dann die »Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und der Abtreibung« einrichten. Sie erfasste an die 100 000 als homosexuell bestrafte oder verdächtigte Männer. Und die Repression wirkte - zwischen 1933 (853) und 1938 (8562) verzehnfachte sich die Zahl der Verurteilungen. Insgesamt wurden bis 1945 rund 50 000 Männer auf Grundlage des Paragrafen 175 abgeurteilt. Viele von ihnen wurden nach ihrer Gefängnishaft, andere auch unmittelbar in Konzentrationslager verschleppt, wo sie mit einem »Rosa Winkel« an ihrer Kleidung kenntlich gemacht wurden. Viele Homosexuelle kamen auch aus anderen Gründen ins KZ - nicht zuletzt als aktive Gegner des NS-Regimes.
In einem Anfang des Jahres auf dem »Regenbogenportal« des Bundesfamilienministeriums veröffentlichen Beitrag heißt es: »Schwule, bisexuelle und andere Männer, die sexuelle Kontakte mit Männern hatten, wurden vom NS-Regime systematisch verfolgt. Rund 90 000 wurden polizeilich erfasst, davon wurden 50 000 zu Freiheitsstrafen verurteilt. Bis zu 15 000 wurden in Konzentrationslagern inhaftiert. Tausende von ihnen wurden umgebracht.«
2018, zehn Jahre nach Einweihung des Denkmals im Tiergarten, wandte sich Frank-Walter Steinmeier als erstes deutsche Staatsoberhaupt in einer Rede direkt an die Überlebenden und Hinterbliebenen: »Als Bundespräsident ist mir heute eines wichtig: Ihr Land hat Sie zu lange warten lassen. Wir sind spät dran. Was gegenüber anderen Opfergruppen gesagt wurde, ist Ihnen bisher versagt geblieben. Deshalb bitte ich heute um Vergebung - für all das geschehene Leid und Unrecht, und für das lange Schweigen, das darauf folgte.«
Und selbst das Erreichte ist immer wieder bedroht. Dutzende Male schon haben Nazis oder Homophobe das Denkmal in Tiergarten geschändet - zuletzt Mitte Juni. Die Polizei ermittelt wegen Sachbeschädigung.
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