Ein Spion Gottes

Der Gerstein-Bericht

  • Martin Stolzenau
  • Lesedauer: 3 Min.

Dieses Jahr starb kurz vor seinem 90. Geburtstag Rolf Hochhuth, einer der bedeutendsten deutschen Schriftsteller der Nachkriegszeit. Sein Lebensthema war die Aufarbeitung der NS-Verbrechen der Nazis. Sein Erstlings- und Enthüllungswerk »Der Stellvertreter«, das er mit 26 Jahren schrieb, löste im kirchlich-konservativen Lager einen Sturm der Entrüstung aus. Erwin Piscator hat das Stück 1963 in der Berliner Volksbühne uraufgeführt; inzwischen wird es weltweit gespielt und erlebte in Buchform international eine Millionenauflage. Es gibt dem Papst eine Mitschuld am Holocaust. Grundlage für Hochhuths Anklage war der sogenannte Gerstein-Bericht.

Der am 11. August 1905 im westfälischen Münster als Sohn eines Landgerichtspräsidenten geborene Kurt Gerstein galt bereits in jungen Jahren als »Enfant terrible« der Familie. Trotz Intelligenz fiel der Knabe in der Schule mehr durch seine Streiche als durch Leistungen auf. Dies änderte sich mit dem Besuch des Gymnasiums und dem Anschluss an die protestantische Jugendbewegung. Gerstein studierte in Marburg, Aachen und Berlin Bergbauwesen. 1933 bewog ihn seine aufstiegsorientierte Familie zum Eintritt in die NSDAP. Mit dieser kam er jedoch rasch in Konflikt. Er protestierte beispielsweise gegen die Übernahme der evangelischen Jugend in die HJ. 1936 wurde er wegen der Verbreitung staatsfeindlicher Schriften von der Gestapo verhaftet und aus der NSDAP ausgeschlossen. Nachdem seine Familie die Freilassung erwirkt hatte, nahm er in Tübingen ein Medizinstudium auf und heiratete Elfriede Bengsch. Die Trauung vollzog Generalsuperintendent Otto Dibelius, der 1945 zum Berliner Bischof aufsteigen sollte und als Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirchen Deutschlands (EKD) den bis heute bestehenden Militärseelsorgevertrag mit der Bundesregierung abschloss.

Gerstein wurde 1938 erneut verhaftet und ins KZ Welzheim überstellt. Wieder ließ die Familie ihre Beziehungen in höchste Ämter spielen. Wieder kam er frei. Fortan wollte er nur noch im Verborgenen gegen die Nazis wirken. Er trat 1941 in die SS ein, wollte die Mordmaschinerie von innen heraus entlarven und fühlte sich dabei als »Spion Gottes«. Der medizinisch gebildete Diplom-Ingenieur wurde ins Hygiene-Institut der Waffen-SS abkommandiert und bald Chef der Abteilung »Gesundheitstechnik« mit dem Auftrag, »mobile und stationäre Desinfektionsanlagen zu entwickeln«, die der Ermordung von Menschen dienen sollten. In den Vernichtungslagern Bełżec und Treblinka wurde Gerstein Zeuge des Holocaust. Er informierte Dibelius, Martin Niemöller, den schwedischen Diplomaten Göran von Otter, den Schweizer Gesandten Paul Hochstrasser und den Syndikus des katholischen Bischofs von Berlin sowie weitere einflussreiche Persönlichkeiten mit der Bitte um Weiterverbreitung seiner Kenntnisse über die systematisch, industriell betriebenen Morde der Nazis. Die Ungeheuerlichkeiten fanden jedoch kein Gehör.

Gerstein sabotierte zudem Zyklon-B-Lieferungen in die Todeslager. Seine Aktivitäten blieben bis Kriegsende unentdeckt. Auf dem Weg nach Tübingen, wo seine Familie inzwischen lebte, wurde er im Frühjahr 1945 in Rottweil von französischen Truppen interniert - im Hotel »Zum Mohren«, wo er den berühmten Gerstein-Bericht in deutscher, englischer und französischer Sprache verfasste. Auf diesen stützte sich unter anderem die Anklage der Alliierten in Nürnberg gegen die Hauptkriegsverbrecher 1945/46. Der Zeuge selbst geriet jedoch in den Verdacht, an Verbrechen beteiligt gewesen zu sein, weshalb er ins Pariser Militärgefängnis Cherche-Midi verlegt wurde, wo scharfe Verhöre, schlechte Haftbedingungen und eine ausufernde Zuckerkrankheit seine Konstitution schwächten. Die inzwischen von Baron von Otter initiierte Suche nach ihm kam zu spät. Am Morgen des 25. Juli 1945 wurde er in seiner Zelle erhängt aufgefunden. Es hieß, er habe Selbstmord begannen. Seine Frau erfuhr erst ein Jahr später von seinem Tod und wurde im Entnazifizierungsverfahren trotz positiver Aussagen Niemöllers von der Tübinger Spruchkammer als »belastet« eingestuft.

Erst nach Hochhuths »Stellvertreter« und zwei französischen Biografien, die seine wahre Einstellung und sein mutiges Handeln offenbarten, wurde Gerstein 1965 unter dem Druck einer breiten Öffentlichkeit rehabilitiert. Zu seinem 50. Todestag gründete sich in Hagen-Berchum, wo er einst das Bibelkreis-Heim leitete, ein Förderkreis, der die Erinnerung an Gerstein pflegt. Seine Geschichte wurde inzwischen verfilmt, mit Ulrich Tukur in der Hauptrolle.

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