»Wir sind dreifach unsichtbar«

Vanessa Motiño arbeitete mehrere Jahre ohne Papiere als Haushaltshilfe in Barcelona. Jetzt unterstützt sie andere Frauen, sich gegen Ausbeutung zu wehren

  • Julia Macher
  • Lesedauer: 7 Min.

In der Fußgängerzone in Barcelonas Altstadtviertel Poble Sec reiht sich Tapas-Bar an Döner-Imbiss. Es ist ein lauer Sommerabend, aus einem geöffneten Fenster dröhnt Reggaeton. Viele der 40 000 Bewohner des Quartiers stammen aus Mittelamerika, vor allem aus der Dominikanischen Republik und Honduras. Auch Vanessa Motiño lebt seit einigen Monaten hier. Sie kommt ein paar Minuten zu spät, den Mund-Nasen-Schutz noch im Gesicht und entschuldigt sich wortreich. Die alte Frau, die sie derzeit betreut, brauchte länger für den Abendspaziergang. Erschöpft lässt sich Motiño auf den weißen Plastikstuhl eines Straßencafés fallen.

Erst mal durchatmen …

So geht das schon seit Monaten! Ich komme kaum mehr zur Ruhe! Die letzten Monate waren eine einzige emotionale Achterbahn!

Wegen der Corona-Pandemie?

Wegen allem! Im Januar starb der alte Herr, den ich zuletzt betreut habe, mit 90 Jahren. Ich war plötzlich arbeitslos, und das, wo doch ein paar Wochen später meine Kinder nach Spanien kommen sollten! Dreiundhalb Jahre habe ich sie nicht gesehen! Ich war so glücklich, sie am Flughafen in meine Arme schließen zu können! Die Älteste ist in Honduras geblieben, um da Architektur zu studieren. Aber meine anderen Kleinen waren endlich bei mir!

Das muss ein schönes Gefühl gewesen sein.

Ja. Aber kaum waren sie da, begann die Pandemie, und wir durften das Haus nicht mehr verlassen. Wir leben zu fünft in einer kleinen Concierge-Wohnung im Erdgeschoss: Küche, Bad, Wohn- und Schlafzimmer und eine Diele, in der der Esstisch steht. Da ging es ganz schön turbulent zu! Aber das Schlimmste war, keinen Job zu haben: Mein Erspartes war schnell aufgebraucht. Und ich brauchte doch Geld für meine Kinder! Mein Gott, wie habe ich gelitten!

Geld vom Staat gab es keines?

Nein. Anspruch auf Arbeitslosengeld oder eine andere Unterstützung habe ich nicht. Ich bekomme mein Geld bar auf die Hand, ich arbeite »schwarz«. Es war ein Riesenglück, dass ich mitten in der Pandemie die Frau gefunden habe, für die ich jetzt arbeite. 800 Euro bekomme ich für fünf, sechs Stunden täglich, von Montag bis Sonntag. Die Dame hatte sich selbst aus einem Altersheim entlassen, weil sie Angst hatte, sich dort mit Covid-19 anzustecken. Die Zustände in den spanischen Seniorenresidenzen waren ja ganz besonders schlimm. Aber gleich am ersten Tag zuhause ist die Frau gestürzt, konnte nicht mehr alleine kochen und für sich sorgen. Sie brauchte mich, und ich brauchte sie.

Als Seniorin gehörte sie zu Risiko-Gruppe. Wie sind Sie damit umgegangen?

Ich habe versucht, ihr so wenig wie möglich nahe zu kommen. Das ist natürlich schwierig, wenn man für jemanden kocht, ihm beim An- und Ausziehen, beim Waschen hilft. Auf der Straße bin ich immer im Slalom um alle herumgelaufen, um mich bloß nicht anzustecken und selbst zur Überträgerin zu werden. Zum Glück ging bisher alles gut. Auch meine Kinder haben alles gut überstanden: Die Älteste ist 16, der jüngste neun. Sie sind also alt genug, um ein paar Stunden alleine zu Hause zu bleiben. Anders geht es nicht: Die Schulen sind ja immer noch zu, und neben der alten Frau habe ich ja auch noch vier Wohnungen, in denen ich einmal die Woche putze. Ich bin eigentlich ununterbrochen am Rennen, von einem Job zum andern. Am Abend tun mir die Füße weh. Trotzdem bräuchte ich eigentlich noch ein, zwei weitere Putzjobs. Wenn im September die Schule wieder anfängt, brauchen die Kinder Bücher und tausend andere Dinge.

Was ist mit dem Vater? Kümmert der sich nicht?

Der ist in Honduras geblieben (winkt ab). Aber auch als die Kinder dort bei ihm lebten, war er so gut wie unsichtbar. Ich habe mich um alles gekümmert: um die Schule, die Geburtstage, den Wochenendeinkauf, die Arztbesuche. Alles von Barcelona aus, vom anderen Ende der Welt! Mein Handy war die Schaltzentrale. Ich hatte alle wichtigen Nummern, habe Arzttermine vereinbart, mit den Lehrern und der Schuldirektorin gesprochen. Eigentlich habe ich zwei Leben gleichzeitig geführt: eines hier und eines mit meinen Kindern in Honduras. Die Senioren, die ich betreut habe, waren immer ganz baff, wenn sie das mitbekommen haben. Von dem Geld, das ich bei ihnen verdient habe, habe ich keinen Cent ausgegeben: Das war für die Kinder. 500 bis 600 Euro habe ich jeden Monat überwiesen, den Rest für ihre Reise gespart. Für mich habe ich nur das ausgegeben, was ich mir durch Putzen dazuverdient habe.

Und das hat gereicht?

Knapp. Miete musste ich ja nicht zahlen. Ich habe zunächst als »interna« in den jeweiligen Haushalten mitgewohnt. Zwei Wochen nach Ankunft hatte ich den ersten Job. Der Bekannte einer Freundin hat ihn vermittelt. »Schwarz« natürlich. Ich hatte ja nur ein Touristenvisum. Aber da habe ich es nur drei Monate ausgehalten.

Weil die Arbeitsbedingungen so schlecht waren?

Das auch! Ich habe eine Alzheimer-Patientin betreut, rund um die Uhr, für knapp 600 Euro. Nur fünf Stunden in der Woche durfte ich freinehmen. Das Schlimmste aber war der Ehemann. Er hat mir nachgestellt und mich durch den Türspalt beim Duschen oder Umziehen beobachtet. Abschließen durfte ich nicht. Er hat auch versucht mich zu küssen oder mich von hinten umarmt. Ich habe mich dann immer weggedreht oder aus seinen Armen gewunden. Doch dann hat er angefangen, mich als »Nichtsnutz« zu beschimpfen oder mir das Duschen verboten, weil ich angeblich zu viel Wasser verbräuchte.

Das ist sexuelle Belästigung und genauso strafbar wie die ausbeuterischen Arbeitsbedingungen. Haben Sie überlegt ihn anzuzeigen?

Nein, davor hatte ich viel zu viel Angst! Die Arbeit war doch das Einzige, was ich hatte! Ich war neu im Land, kannte niemanden, wusste nicht, welche Rechte ich habe … So geht es fast allen Migrantinnen, die als Haushaltshelferinnen arbeiten. Wir sind dreifach unsichtbar für die Gesellschaft: Weil wir Frauen sind. Weil wir in Privathaushalten arbeiten. Weil wir keine Papiere haben. Ich habe mich dann während meiner freien Stunden davongestohlen und mich in einem anderen Haushalt beworben. Wieder als Haushaltshilfe, wieder mit alten Menschen. Bis zu ihrem Tod war ich bei ihnen.

Das stelle ich mir sehr schwer vor: Zu wissen, dass der Job voraussichtlich mit dem Tod des betreuten Menschen endet.

Das ist es auch. Ich habe vorher noch nie jemanden sterben sehen. Und jetzt war ich diejenige, die während der letzten Atemzüge die Hand gehalten hat. Zuerst bei einer Frau, dann bei einem Mann. Das ist sehr hart. Denn man kommt den Menschen natürlich sehr nahe, wenn man sie pflegt und versorgt und auf der letzten Reise begleitet. Da kann man nicht so einfach abschalten und sagen, das berührt mich nicht.

Anfang Februar haben Sie mit ein paar Kolleginnen den Verein »Mujeres unidas entre Tierras« (MUET, etwa »Vereinte Frauen zwischen den Welten«) gegründet. Was wollen Sie erreichen?

Wir wollen den Frauen zeigen, wie sie sich gegen Ausbeutung wehren können und sie über ihre Rechte aufklären: Wenn ihre Arbeitgeber ihnen rechtmäßige Verträge geben, dann können sie eine Aufenthaltsgenehmigung beantragen, so wie ich das gerade versuche. Von den 600 000 Frauen, die in Spanien als Haushaltshilfen arbeiten, haben 24 000 keine Papiere. Wir helfen aber auch ganz konkret: Als während der Ausgangssperre viele Frauen ihren Job verloren, haben wir eine Lebensmittelbank, Geld- und Kleiderspenden organisiert. Davon habe ich auch profitiert. Wir helfen auch bei der Wohnungssuche. Wenn es den Verein schon bei meiner Ankunft gegeben hätte, wäre vieles einfacher gewesen.

Gibt es etwas, was Sie Ihren Kindern gerne mit auf den Weg geben würden?

Gebt nie auf. Kämpft für Eure Träume. Als ich nach Barcelona kam, habe ich mir eine Liste mit meinen Zielen gemacht. Hinter die beiden wichtigsten konnte ich einen Haken machen: Meine Kinder sind wieder bei mir und ich habe eine Arbeit. Jetzt möchte ich, dass sie in der Schule etwas lernen und einen Beruf finden. Der Weg dahin wird schwer, das weiß ich. Aber er ist machbar.
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