Landesregierung wirbt um Berliner Azubis
Wirtschaftsminister Steinbach: Wenige Wochen vor Beginn des neuen Lehrjahres ist die Hälfte der Ausbildungsplätze noch unbesetzt
Es ist nur auf den ersten Blick ein durch die Corona-Pandemie verursachter Kollateralschaden, dass derzeit etwa die Hälfte der in Brandenburg zur Verfügung stehenden Ausbildungsplätze noch immer nicht besetzt sind. Denn das war vor einem Jahr um diese Zeit nicht wesentlich anders, wie am Montag auf einer Pressekonferenz in Potsdam deutlich wurde. Und so richtete Wirtschafts- und Arbeitsminister Jörg Steinbach (SPD) einen »Weckruf« an die Schulabgänger des Landes: »Informiert euch über die Vielzahl der interessanten Angebote und bewerbt euch um einen Ausbildungsplatz.«
Dennoch räumte Steinbach ein: »Corona macht alles etwas anders.« Die Viruskrise habe insofern Einfluss genommen, als mit 12 360 Ausbildungsplätzen insgesamt etwa 600 weniger zur Verfügung stehen als im Vorjahr. Vor dem Hintergrund, dass seit Monaten ganze Berufsschulen geschlossen worden und fast alle Ausbildungsmessen weggefallen seien sowie die »klassische Berufswerbung« in den Schulen nicht stattgefunden habe, hätte es schlimmer kommen können, ließ der Minister durchblicken.
Tatsächlich stark gesunken sind Steinbach zufolge die Ausbildungsangebote im Bereich der Fahrzeugtechnik, im Bereich der Versicherungen und Finanzdienstleister und bei der Lebensmittelherstellung. Der Minister sieht darin auch eine Folge des Medienblicks auf diese Branchen. Wenn beim Schweineschlachtbetrieb Tönnies solche bestürzenden Vorkommnisse bekannt geworden seien, müsse man sich über solche Entwicklungen nicht wundern. Wider Erwarten habe aber das Hotel- und Gaststättengewerbe trotz coronabedingter Ausfälle sein Angebot an Ausbildungsplätzen nicht eingeschränkt.
Bernd Becking, Geschäftsführer der Regionaldirektion Berlin-Brandenburg der Bundesagentur für Arbeit, sprach von 6800 freien Stellen, denen derzeit landesweit 6100 »unversorgte« Schulabgänger gegenüberstünden. In praktisch allen Landesteilen seien noch jede Menge Lehrstellen zu haben: Im Agenturbereich Potsdam beispielsweise rund 2000, in Cottbus etwa 1900 und in Neuruppin (Ostprignitz-Ruppin) rund 1300. Erfahrungsgemäß würden aber in den Monaten Juni, Juli und August etwa drei Viertel aller Ausbildungsverträge geschlossen.
Als Vertreter der Industrie- und Handelskammern (IHK) appellierte Wolfgang Spieß von der IHK Potsdam an die Eltern, ihre Verantwortung und ihre Einflussmöglichkeiten wahrzunehmen. Zu 80 Prozent würden sie die Entscheidung für die Berufswahl ihrer Zöglinge zumindest entscheidend beeinflussen oder gar treffen.
Der Geschäftsführer der Unternehmerverbände Berlin-Brandenburg, Alexander Schirp, mochte die Jugendlichen auch mit guten Vergütungsaussichten locken: Das Elektrohandwerk zahle inzwischen 670 Euro im Monat, der Bau 765, der Einzelhandel sogar 790 Euro. Kein Vergleich zur Industrie, wo die Azubis mit mehr als 1000 Euro in ihre Ausbildung einsteigen.
Die Zahl der Schulabgänger in Brandenburg hat sich in den vergangenen Jahrzehnten halbiert. Wiederum die Hälfte der Verbliebenen erwirbt das Abitur, steuert also zumeist ein Studium an. »Der Rückgang beunruhigt mich seit vielen Jahren«, sagte Wirtschaftsminister Steinbach im Hinblick auf die geringe Zahl der Jugendlichen, die am Ende als Nachwuchs bei Handwerk, Fremdenverkehr, Dienstleistung, Landwirtschaft und Pflege Interesse zeigten. Er sprach sich dafür aus, dass ein »gesunder Prozess« dazu führen müsse, dass eine Bewerbung um einen Lehrberuf nicht das Abitur zur Voraussetzung haben sollte. Es seien eindeutig zu wenige jungen Menschen vorhanden, um den Fachkräftebedarf zu befriedigen, der übrigens mit Blick auf viele Ansiedlungen auch steigen werde.
In diesem Zusammenhang kam Bernd Becking von der Arbeitsagentur auch auf die dramatische Lage auf dem Ausbildungsmarkt in Berlin zu sprechen. In der Hauptstadt sei die Zahl der zur Verfügung gestellten Ausbildungsplätze im laufenden Jahr um 14 Prozent gefallen, die der unversorgten Jugendlichen sei auf derzeit rund 2500 angewachsen. Minister Steinbach lud Schulabgänger aus Berlin ein, sich um einen Ausbildungsplatz im brandenburgischen Umland zu bewerben. Aus einem seltsamen Grund sei für viele Berliner die Stadtgrenze offenbar noch immer »eine größere Barriere als ein Flug nach Schanghai«.
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