Nah und näher

Colum McCanns »Apeirogon« erzählt von der Freundschaft eines Palästinensers mit einem Israeli

  • Walter Kaufmann
  • Lesedauer: 3 Min.

Erst gegen Ende seines nahezu 600 Seiten starken Romans, in dem frei Erfundenes in Dokumentarischem eingebettet ist, wird Colum McCann noch einmal auf das Wort Apeirogon zurückkommen: eine Figur mit einer zählbar unendlichen Menge Facetten. Und richtig, dieses anfangs so fremd anmutende Wort gibt dem gesamten Werk einen trefflichen Titel. Eine Unmenge brisanter, dabei höchst unterschiedlicher Aspekte tritt zutage, schwer überschaubar zunächst, irritierend gar, bis sich die Method in the Madness offenbart. McCann ist es gelungen, die Freundschaft eines Palästinensers mit einem Israeli wie vor dem Hintergrund eines sehr weiten Wandgemäldes darzustellen.

Tief in die Historie ist er eingetaucht, in biblische Zeiten, um das Martyrium des Jesu Christus in all seiner Grausamkeit mit der gegenwärtigen Gewalttätigkeit manch eines israelischen Soldaten wie auch mit der blutigen palästinensischen Gegenwehr der Intifada zu konfrontieren.

McCanns erste Reise nach Israel und ins Westjordanland hatte er mit Menschen unternommen, die sehr wohl wussten, was einem palästinensischen Bauern die Entwurzelung seiner uralten Olivenbäume bedeutet und wie es ihn trifft, durch eine meterhohe Mauer von seinem Grund und Boden getrennt zu werden und fortan im Schatten dieser Mauer zu leben.

Eine Vielfalt von Einsichten und Erkenntnissen hat man McCann vermittelt, hat er eingefangen, ehe er sich in der Lage sah, eben jene palästinensisch-israelische Verbrüderung zu schildern, von der Schicksalsgemeinschaft zweier Väter zu erzählen, von denen jeder eine innig geliebte Tochter verloren hatte. Ramis war im Alter von 13 Jahren durch die Bombe eines palästinensischen Selbstmordattentäters getötet worden, und Bassams Zehnjährige fiel dem Geschoss eines israelischen Grenzsoldaten zum Opfer. Wie die zwei Männer nah und immer näher zueinander rücken, sie schließlich den Entschluss fassen, auf Reisen rund um die Welt den Tod ihrer Töchter zu einem Fanal für Frieden und Verständigung zu machen - das ist der Kern von »Apeirogon«.

Mochte auch die Verbrüderung eines Palästinensers mit einem Israeli in dem zerstrittenen Land wie ein Wunder anmuten, unglaubhaft gar - es war geschehen! Und es brauchte einen Schriftsteller wie Colum McCann, um das überzeugend darzustellen, einen Mann mit Menschenkenntnis, Herz und Verstand.

Herz und Verstand hat McCann mit seinen bewegenden Romanen über einen russischen Künstler (»Der Tänzer«) und eine Dichterin der Roma (»Zoli«) bewiesen - und beweist dies nun auch mit »Apeirogon«, diesem so menschliche Buch über israelisches und palästinensisches Leben. Der Autor weiß zudem ein besonderes Verständnis für Entschlüsse zu wecken wie den von Bassam, dem Vater der ermordeten Tochter, der nach der Gerichtsverhandlung auf den freigesprochenen israelischen Grenzsoldaten zugeht, um ihm auf Hebräisch zu sagen, was er sich im Stillen zurechtgelegt hat: »Nicht ich bin hier das Opfer, sondern Sie.«

Ja, so erkennt der Leser: Der Schuldige ist das Opfer - die Zwänge unerbittlicher Befehle hatten ihn zum Mörder gemacht.

Nicht viel später brachen 100 israelische Soldaten entgegen striktester Befehle ins Palästinensergebiet auf, um in Gedenken an das ermordete Mädchen für alle Kinder des Dorfes einen Sportplatz anzulegen - die Disziplinarstrafen nahmen die Soldaten hin.

Colum McCann: Apeirogon. Aus dem Engl. von Volker Oldenburg. Rowohlt-Verlag, 595 S., geb., 25 €.

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