»Was 20 Jahre gesät wurde, wird jetzt geerntet«

Sachsen gilt seit Jahren als Nazi-Hochburg. Rechte Hegemonien werden immer bedrohlicher, doch auch Gegenbewegungen nehmen zu

  • Josefine Körmeling
  • Lesedauer: 5 Min.

Herr Nattke, Sie sind Fachreferent des Kulturbüros Sachsen, einer Landesberatungsstelle gegen die extreme Rechte. Der Verein besteht seit 2001. Wie haben sich der Einfluss und die Gewalt von rechts seitdem verändert?

Der Anfang der 2000er Jahre war eine Zeit der Aufbauarbeit für die neonationalsozialistische Szene in Sachsen. Es gab zwar bereits eine gut gefestigte Kameradschaftsszene und eine breite Neonazisubkultur, jedoch hat die NPD erst 2001 angefangen, diese Strukturen zu qualifizieren und sich auf kommende Wahlen vorzubereiten. Heute dagegen ist die NPD komplett bedeutungslos, aber was sie und andere Nazis 20 Jahre lang an Gedanken und Netzwerken gesät haben, das wird jetzt von vielen anderen Kräften der extremen Rechten geerntet. Zum Thema Gewalt von rechts kann ich sagen, dass es seit 1990 allein in Sachsen 19 Todesopfer der rechten Szene gegeben hat. Die Zahl der tätlichen Angriffe liegt irgendwo im vierstelligen Bereich. Rechte Gewalt ist und war definitiv sowohl vor 20 Jahren als auch heute das ernstzunehmendste Problem bei Gewaltfragen im Bundesland Sachsen und in Ostdeutschland generell.

Im Interview

Michael Nattke (Jg. 1978) beschäftigt sich seit 2002 wissenschaftlich und in ehrenamtlichen Gruppen mit neonazistischen Strukturen und rechten Einstellungen in Ostdeutschland. Seit 2009 ist er Fachreferent beim Kulturbüro Sachsen, dem Träger der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus in dem Bundesland. Seit 2014 ist er einer der gewählten Sprecher des Netzwerks Tolerantes Sachsen. Er hat Rechtswissenschaften, Politikwissenschaften und Soziologie in Frankfurt/O. und Dresden studiert. Mit Michael Nattke sprach Josefine Körmeling.

Foto: Neja Hrovat

In welchen Bereichen wird von der extremen Rechten besonders Raum eingenommen?

Ich beobachte da drei Megatrends. Erstens: Seit Pegida hat sich die Zahl der eingetragenen Vereine, die im Vorstand Neonazis, AfD- oder Pegida-Mitglieder sitzen haben, verdreifacht. Das heißt, wir haben eine rechte Zivilgesellschaft, die sich etabliert. Die zweite Entwicklung ist, dass es seit dem Niedergang der NPD einen Zerfall der extremen Rechten in viele verschiedene kleine Gruppen gibt. Gleichzeitig ist aber auch die Idee einer gemeinsamen Bewegung entstanden. Jeder arbeitet zwar für sich, aber an Ereignissen wie an der Demonstration im Spätsommer 2018 in Chemnitz kann man sehen, dass es durchaus einen Schulterschluss gibt - von der AfD über die NPD bis hin zu rechtsterroristischen Strukturen wie »Blood & Honour«, die gemeinsam auf die Straße gehen. Das ist gefährlich, weil diese gemeinsame Bewegung sehr wirksam sein kann. Der dritte Trend, den wir wahrnehmen, ist, dass die Immobilienkäufe von rechter Seite in den vergangenen Jahren immer mehr zugenommen haben. Ob das völkische Siedler*innen, Verschwörungsideolog*innen oder die Afd sind - sie alle haben verstanden, was eigene Räume bedeuten. Gerade in ländlichen Gebieten beobachten wir, dass die Einnahme von Räumen immer weiter zunimmt. Dennoch ist es wichtig zu sagen: Die meisten Menschen in Sachsen sind keine Nazis. Selbst wenn die AfD in einzelnen Landesteilen 30 Prozent der Stimmen hat, reden wir von einer Minderheit - nur eben einer richtig, richtig gefährlichen Minderheit.

Was für emanzipatorische Kräfte gab und gibt es in Sachsen gegen rechte Hegemonien?

Als wir 2001 mit unserer Arbeit angefangen haben, gab es in Sachsen vielleicht ein Dutzend Vereine und Initiativen, die sich mit Nazis oder Rassismus beschäftigt haben. Dazu gab es schon immer eine sehr gut organisierte antifaschistische Szene, die natürlich sehr wichtig ist. Inzwischen sind allein im Netzwerk »tolerantes Sachsen« mehr als 120 Vereine registriert, die sich explizit mit diesen Themen beschäftigen. Da ist also wahnsinnig viel passiert. Und genau das ist auch, was unsere Arbeit bewirken kann, denn viele dieser Initiativen haben wir bei ihrer Gründung begleitet. Wir schaffen es damit mit unserer Arbeit als Demokrat*innen und Antifaschist*innen sichtbarer zu werden im Kampf für menschenrechtsorientierte Werte. Ein bisschen besser geworden ist auch das generelle Bewusstsein zur Thematik. Wenn man sich 2001 mit der extremen Rechten beschäftigen wollte, dann wurde dir von Seiten der Politik sofort gesagt: »Oh, ihr seid Linksextreme.« Das kann dir zwar heute auch noch passieren, ist aber nicht mehr die Regel. In den vergangenen Jahren gab es ein Umdenken von Seiten der politischen Verantwortungsträger*innen und der Sicherheitsbehörden. Ich will damit nicht sagen, dass jetzt alles gut ist, aber darauf aufmerksam machen, dass es durchaus auch positive Veränderungen gab.

Gibt es auch Bewegungen, die verdrängt wurden?

Vor allem in ländlichen Regionen ist es deutlich homogener geworden in den vergangenen 20 Jahren. Da Einwanderung überwiegend abgelehnt wird, gibt es eine größtenteils weiße Bevölkerung. Auch die Jugendkultur geht verloren, da junge Menschen nach dem Schulabschluss meistens in die Städte ziehen. Die wenigen antifaschistischen und linksalternativen Jugendlichen, die es gibt, fallen sehr auf, und sie haben keine Räume. Das ist in den Städten anders, da gibt es auch heute noch mehr Subkulturen.

Der Prozess, den Sie jetzt beschrieben haben, wie verändert der die Kultur von Sachsen?

Ich glaube, es gibt viele verschiedene Räume, die von unterschiedlichen Menschen genutzt werden. Da gibt es Orte, die sind sehr emanzipatorisch und leben von linksalternativen Subkulturen, und es gibt Regionen, die sehr durch ein homogenes nationalistisches Weltbild geprägt sind, dort finden andere keinen Platz. Das existiert nebeneinander. Es gibt dabei einen sehr großen Unterschied zwischen Stadt und Land. Aber in Großstädten wie Dresden findet man diese beiden Tendenzen auch direkt nebeneinander.

Wie sieht die Situation in Sachsen im Vergleich zu den anderen neuen Bundesländern aus?

Ich würde sagen, viele Entwicklungen, die hier im Bereich der extremen Rechten stattfinden, sind übertragbar auf die anderen neuen Bundesländer. Vieles wird in Sachsen ausprobiert, weil Nazis das Gefühl haben, hier haben sie Freiräume. Genau diese Dinge strahlen dann natürlich auf die anderen Bundesländer aus. Ich würde zum Beispiel sagen, Südbrandenburg und Sachsen kann man von der Zusammensetzung der rechten Szene nicht voneinander unterscheiden, genauso wenig wie von Teilen in Thüringen und Sachsen-Anhalt.

Wie sieht Ihre Prognose für die Zukunft aus, und was sind Ihre Erwartungen an die Politik?

Ich hoffe, dass man in der Zukunft versteht, dass die Arbeit im Bereich der zivilen Auseinandersetzung mit Demokratie keine »Kann-Aufgabe« ist. Das gilt auch für meine Forderungen an die Politik: Ich erwarte, dass es trotz Covid-19 entsprechend der steigenden Gefährdungslage eine Aufstockung der Landesmittel für diesen Bereich gibt. Und ich habe noch eine andere Hoffnung für die Zukunft: Ich wünsche mir, dass die jüngere Generation einfach keine Lust hat auf eine homogene Gesellschaft und sich deshalb statt rechtem Gedankengut Heterogenität und Verschiedenheit durchsetzen.

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