In Chile nehmen rechte Gruppen Mapuche ins Visier
Militante gehen zusammen mit der Polizei gegen Indigene vor
Am Dienstag sind es 100 Tage: Seit Anfang Mai befinden sich 27 indigene Mapuche in verschiedenen Gefängnissen in der Provinz La Araucanía im Hungerstreik. Sie fordern unter anderem die Umsetzung der Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), in der die Rechte indigener Völker festgeschrieben sind. Chile hat sie längst ratifiziert, daran gehalten wird sich trotzdem nicht.
Als Zeichen der Entspannung konnte die Berufung von Víctor Pérez zum Innenminister in Chile Ende Juli nicht gewertet werden: Er ist als Hardliner und Sympathisant der deutsch-chilenischen Sektensiedlung Colonia Dignidad bekannt. Schon sein erstes Wochenende im Amt vor einer Woche war geprägt von Gewalt. Militante Gruppen gingen im Süden der Andenrepublik gemeinsam mit der Polizei gegen Mapuche vor. Letztere hielten vier Gemeindeverwaltungen besetzt, um gegen die Haftbedingungen mehrerer Mapuche zu protestieren.
»Chile ist und bleibt ein Hochdruckkochtopf«, sagte die Musikerin Ana Tijoux dem »nd«. Regelmäßige Proteste in einzelnen Landesteilen zeigen auf, dass der Unmut, der zur großen Protestwelle vom 18. Oktober führte, noch vorhanden ist. Damals gingen teils Millionen von Menschen und auch viele Mapuche gegen fehlende soziale Sicherheit und wirtschaftliche Ungleichheit auf die Straße. Die derzeitige Krise aufgrund des Coronavirus verschlimmert die soziale Lage weiterhin. Mariella Santana von der Menschenrechtsorganisation CODEPU erzählt: »Es vergeht kein Tag ohne Proteste. Kein Tag, an dem wir nicht von Schüssen vonseiten der Polizei und Straßenzügen voller Tränengas berichten müssen.« Doch anstatt die Lage zu entspannen, rüstet die Regierung auf. Waffenkäufe der Polizei und Streitkräfte, sowie die Ernennung von Pérez werden von sozialen Bewegungen als Drohung gelesen. »Seit Beginn der Proteste hat die rechte Regierung von Sebastían Piñera versucht, ein soziales Problem mit der Polizei und dem Militär zu lösen«, erzählt der Politikwissenschaftler Sebastían Monsalve. »Das ist nicht nur ein hartes Zeichen gegenüber der Bevölkerung, sondern endete bislang in einem Fiasko«. Vonseiten der Regierung werden keine Anstrengungen getan, um die Menschenrechtsverletzungen aufzuarbeiten. »Die Polizei ist unfähig zu lernen«, meint dazu Monsalve. Jüngst reichte die Regierung zwei Gesetzesvorschläge ins Parlament ein, welches dem Militär erlauben würde, nachrichtendienstliche Tätigkeiten im Inland durchzuführen und die Aufgabe geben würde »kritische Infrastruktur« zu schützen. »Das Militär wird auf einen Einsatz im Inneren vorbereitet, um die Interessen der Eliten zu schützen«, schließt der Politikwissenschaftler.
Santana ist besorgt darüber, dass seit Beginn der Proteste die radikale Rechte stärker in sozialen Medien und im öffentlichen Raum auftritt. Flyer und Sprüche der rechten Terrororganisation Patria y Libertad sind in den Stadtzentren zu sehen. Personen zeigen sich mit Sturmgewehren und rufen zum Töten linker Demonstrant*innen auf. »Die Ereignisse vom 2. August zeigen, dass es lange nicht mehr bei leeren Phrasen bleibt, sondern die Rechten bereit sind, Menschen direkt anzugreifen.« In jener Nacht wurden Angehörige der Mapuche verfolgt, Symbole und Statuen der Mapuche verbrannt. Die Polizei koordinierte sich mit den Angreifer*innen und nahm ausschließlich Angehörige der Mapuche fest. Die einflussreiche rechtsradikale Gruppe APRA Araucanía feierte diese Ereignisse in sozialen Medien. Dessen Sprecherin, Gloria Naveillán, ist Mitglied der Regierungspartei Unión Democrática Independiente, zu der auch der neue Innenminister gehört. Auch wenn die Regierung offiziell die Gewalt »auf beiden Seiten« ablehnte, machen linke und indigene Organisationen Víctor Pérez für die Gewalt mitverantwortlich. Dieser hatte einen Tag zuvor die südliche Region besucht.
Für die kommenden Monate ist eine neue Protestwelle zu erwarten. Im Oktober soll die Bevölkerung entscheiden, ob sie eine neue Verfassung will. Einzelne Akteure der Rechten stellen die Abstimmung aufgrund des Coronavirus infrage. Mit allen Mitteln.
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