Werbung

Das Gift der Ungleichheit

Die Corona-Pandemie rückt die gesamte öffentliche Daseinsvorsorge ins Scheinwerferlicht

  • Dierk Hirschel
  • Lesedauer: 7 Min.

Im Winter 2019/2020 verbreitete sich das Virus innerhalb Chinas. Doch Viren interessieren sich nicht für nationale Grenzen. Durch globale Produktionsnetzwerke sowie internationale Waren- und Tourismusströme streute das Virus weltweit. In vielen Ländern wurde das Virus erst sehr spät erkannt, weswegen es sich lange Zeit ungehindert ausbreiten konnte. Die nationalen Gesundheitssysteme waren auf einen Ansturm schwer kranker Patienten nicht vorbereitet. Die politischen Maßnahmen zielten folglich darauf ab, Zeit zu gewinnen. Die Ausbreitungsgeschwindigkeit des Virus sollte verlangsamt und ein Impfstoff möglichst schnell entwickelt werden. Deswegen versetzte die Politik den Kapitalismus in ein künstliches Koma. Das öffentliche Leben wurde zum Stillstand gebracht und die sozialen Kontakte wurden empfindlich eingeschränkt.

Vor dem Virus sind nicht alle gleich. Zwar haben sich auch Boris Johnson, Tom Hanks und Friedrich Merz angesteckt, doch während die bürgerliche Oberschicht im sterilen Homeoffice mit der richtigen Netzgeschwindigkeit kämpft, sind Verkäuferinnen, Pfleger und Reinigungskräfte jeden Tag einem hohen Ansteckungsrisiko ausgesetzt. Von den ungleichen Folgen eingeschränkter Bewegungsfreiheit und den ungleichen sozialen Risiken der Wirtschaftskrise ganz zu schweigen.

Dierk Hirschel

Der Chef-Ökonom der Gewerkschaft Verdi, Jahrgang 1970, ist gelernter Tischler und promovierter Volkswirt. Einige Jahre war er regelmäßiger nd-Kolumnist. Der hier veröffentlichte Text ist ein leicht bearbeiteter Auszug aus Hirschels neuem Buch »Das Gift der Ungleichheit«. Darin geht er, wie es im Untertitel heißt, der Frage nach, »wie wir die Gesellschaft vor einem sozial und ökologisch zerstörerischen Kapitalismus schützen können«. Es ist - deshalb auch das Cover in Grün und Rot - ein Plädoyer für eine sozial-ökologische Bewegung, in die Gewerkschaften, Sozial- und Umweltverbände, soziale Bewegungen, Sozialdemokratie, Grüne und Linkspartei eingeschlossen sein sollten. Zugleich liest es sich wie ein Kommentar zur aktuellen Debatte nach der Nominierung von Olaf Scholz als Kanzlerkandidat der SPD.

Die Weltwirtschaft ist im Krisenmodus. Die Weltbank prognostiziert, dass das globale Sozialprodukt 2020 um fünf Prozent schrumpfen wird. Die Pandemie traf die exportabhängige deutsche Industrie mit voller Wucht. Zwischen Kiel und München schickten die Unternehmen ihre Mitarbeiter ins Homeoffice, meldeten Kurzarbeit an und packten ihre Investitionspläne in die Schublade.

In vielen Dienstleistungsbranchen stand die Arbeit still. In der Luftfahrt, in der Schifffahrt, im Tourismus und in der Gastronomie droht eine Insolvenzwelle. Die Schätzungen der professionellen Auguren gehen, abhängig von der Dauer des Shutdowns, von einem Wachstumseinbruch des heimischen Sozialprodukts zwischen 5 und 20 Prozent aus. Nur zum Vergleich: In der großen Weltwirtschaftskrise sank die deutsche Wirtschaftsleistung im Jahr 1932 um 17 Prozent. Die Zahl der Kurzarbeiter und Arbeitslosen könnte im schlimmsten Fall auf ein Rekordniveau ansteigen.

Antikrisenpolitik

Die Krise ist die Stunde der Regierung. Die Große Koalition hat mit einer entschlossenen Antikrisenpolitik schnell und weitgehend angemessen reagiert. Arbeitsminister Hubertus Heil erleichterte die Kurzarbeit und verhinderte so Massenentlassungen. Das Kurzarbeitergeld, welches aktuell bei 60 Prozent des Nettogehalts liegt (67 Prozent mit Kindern), wird nach sechs Monaten auf 80 Prozent (87 Prozent mit Kindern) erhöht. Geringverdiener müssen folglich in den ersten Monaten empfindliche Einbußen hinnehmen. Vielen wird der Gang zum Sozialamt nicht erspart. Arbeitgeber, die Kurzarbeit beantragen, können sich hingegen ihre Lohnsumme inklusive Sozialversicherungsbeiträge vom Staat erstatten lassen. Dafür müssen sie nicht einmal auf Dividendenausschüttungen verzichten.

Finanzminister Olaf Scholz richtete im März dieses Jahres einen 600 Milliarden schweren Rettungsfonds für Unternehmen ein und erhöhte den Garantierahmen der Staatsbank KFW um 450 Milliarden Euro. Die KFW soll Unternehmen unbegrenzt Liquiditätshilfen zur Verfügung stellen. Diese Kredite, Staatsgarantien und Teilverstaatlichungen können eine drohende Pleitewelle verhindern. Hauptprofiteure dieser staatlichen Finanzhilfen sind Großunternehmen wie TUI, Lufthansa oder Condor. Für Kleinunternehmer und Selbstständige hat Berlin einen Solidaritätsfonds bereitgestellt. Darüber hinaus schnürte die Merkel-Regierung ein Sozialschutzpaket. Selbstständige ohne Einkünfte können Hartz IV beantragen, ohne ihre Ersparnisse aufbrauchen zu müssen. Bedürftige Familien bekommen einen Kinderzuschlag und klammen Mieter darf in der Krise nicht gekündigt werden.

In der Krise sind plötzlich alle Keynesianer. Im Juni schnürte die Große Koalition ein 130 Milliarden schweres Konjunkturpaket. Dieses enthielt kurzfristige konsumstärkende Maßnahmen (Kinderbonus, Mehrwertsteuersenkung, geringerer Strompreis, erleichterte Abschreibungen, Umweltprämie), Rettungsschirme für Kommunen, ÖPNV, Bahn, mittlere Unternehmen, Sozialversicherungen und Kultur sowie Zukunftsinvestitionen in Krankenhäuser, Kitas, Schulen, Elektromobilität und Digitalisierung. Riskant ist das ökonomische Großexperiment der Mehrwertsteuersenkung. Wenn die Firmen nicht die Preise purzeln lassen, verpufft diese sehr teure Maßnahme. Trotzdem kann das Konjunkturprogramm dazu beitragen, die wirtschaftliche Krise zu überwinden. Die Merkel-Regierung verpasste jedoch die Chance, mittels höherer und langfristig angelegter Investitionen in Gesundheit, Bildung, ÖPNV und Klimaschutz die Weichen für eine sozial-ökologische Transformation zu stellen.

Insgesamt mobilisierte die Bundesregierung 1,3 Billionen Euro im Kampf gegen Corona. Schwarze Null und Schuldenbremse sind erst einmal Geschichte. Olaf Scholz plant für 2020 eine Nettokreditaufnahme von 220 Milliarden Euro. Dafür krönte die »Bild«-Zeitung den obersten Kassenwart der Republik zum Schuldenkönig.

Ein Virus, das keine Grenzen kennt, muss international bekämpft werden. Die Europäische Union versagte aber zunächst beim globalen Krisenmanagement. Die EU-Mitgliedsstaaten stimmten ihre Schutzmaßnahmen nicht miteinander ab und verboten die Ausfuhr von Masken, Schutzanzügen und medizinischen Gütern. Italien erhielt die ersten Hilfsgüter und personelle Unterstützung aus China, Russland und Kuba. Und konjunkturpolitisch musste die Europäische Zentralbank wieder einmal den Retter in letzter Not spielen.

Erst im April einigten sich die EU-Finanzminister auf ein europäisches Hilfspaket, welches die Krisenstaaten entlastet. Gleichzeitig wurde aber die historische Chance verpasst, Corona- oder Eurobonds einzuführen. Dies wäre ein wichtiger Schritt zu einem gemeinsamen solidarischen Europa gewesen. Notwendig wäre ferner ein europäisches Wiederaufbauprogramm, eine Art europäischer Marshallplan. Ende Mai unterbreiteten Angela Merkel und Emmanuel Macron sowie die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen doch noch richtungsweisende Vorschläge für einen Europäischen Wiederaufbaufonds, der durch gemeinschaftliche Anleihen finanziert werden soll.

Die südliche Erdhalbkugel und große Teilen Asiens sind besonders auf die Hilfe der internationalen Gemeinschaft angewiesen. In Afrika, Lateinamerika und Südostasien droht eine humane Katastrophe. In vielen Entwicklungs- und Schwellenländern funktioniert das Gesundheitssystem nur für die nationalen Eliten und der Kollaps der Weltwirtschaft trifft diese Länder besonders hart.

Daseinsvorsorge und soziale Sicherung

Das Coronavirus rückt die gesamte öffentliche Daseinsvorsorge ins Scheinwerferlicht. In Zeiten der Pandemie würde das gesellschaftliche Leben ohne den öffentlichen Nah- und Fernverkehr, ohne die Müllentsorgung, ohne Kommunikations- und Datennetze, ohne Feuerwehr, ohne medizinische Versorgung, ohne Wasserwerke, ohne Polizei, ohne öffentliche Verwaltung und ohne Energieversorgung zusammenbrechen. Der privatwirtschaftlich organisierte Einzelhandel, die Landwirtschaft, die Nahrungsmittelindustrie und die entsprechende Logistik versorgen die Bevölkerung mit notwendigen Lebensmitteln und sind somit ebenso systemrelevant.

Die Grundversorgung mit lebenswichtigen Gütern und Dienstleistungen wird in großen Teilen durch schlecht entlohnte Arbeitnehmer sichergestellt. Die Beschäftigten der kritischen Infrastrukturen bekommen bis zu 20 Prozent weniger Gehalt als nicht-systemrelevante Arbeitnehmer. Starke körperliche und physische Belastungen, Überstunden und geringe Wertschätzung sind an der Tagesordnung. Denn viele Bereiche der Daseinsvorsorge leiden unter Personalmangel und Investitionsstau und sind chronisch unterfinanziert. Verantwortlich dafür war eine neoliberale Politik der Liberalisierung, Privatisierung, der Prekarisierung und des Sozialabbaus.

Nur entwickelte Sozialstaaten kommen gut durch die Krise. In den USA explodieren hingegen Arbeitslosigkeit und Armut. In Nordeuropa schützt der Sozialstaat die Menschen vor den sozialen Folgen der Krise. Die Corona-Pandemie zeigt aber auch die Lücken unserer sozialen Sicherungssysteme.

Soloselbstständige, Minijobber, Teilzeitbeschäftigte, Hartz-IV-Empfänger, Auszubildende, Studierende, Obdachlose und Alleinerziehende sind nicht ausreichend sozial abgesichert. Sozialkassen und Grundsicherung schützen sie nicht hinreichend vor den großen Lebensrisiken. In der Krise droht ihnen der Sturz in den Armutskeller.

Verteilungsfragen

Nach der Corona-Pandemie werden die öffentlichen Kassen leerer und die Staatsschulden höher sein. Aus ökonomischer Sicht kann die Republik mit mehr Staatsschulden problemlos leben. Eine krisenbedingte Staatschuldenquote von voraussichtlich 75 Prozent ist im Vergleich zu den USA (110 Prozent) oder Japan (240 Prozent) immer noch sehr niedrig und überhaupt kein Anlass, den Gürtel enger zu schnallen. Dennoch stehen der Republik mit hoher Wahrscheinlichkeit schwere gesellschaftliche Verteilungskonflikte bevor. Wer soll die Rechnung für den milliardenschweren Rettungseinsatz bezahlen?

Nach der letzten Finanzmarkkrise 2007 gelang es der heimischen Wirtschaftselite und konservativ-liberalen Medien die Bankenkrise in eine Staatsschuldenkrise umzudeuten. Mit Schuldenbremse und Fiskalpakt wurden den Kassenwarten Fesseln angelegt. Dadurch konnte der Sozialstaat an die kurze Leine genommen werden. Die Finanzpolitik der »schwarzen Null« ging zu Lasten der Zukunftsinvestitionen. Die Zeche bezahlten die abhängig Beschäftigten und sozial Benachteiligten. Ob sich Geschichte diesmal als Tragödie wiederholt, ist offen.

Corona zeigt der Welt das hässliche Gesicht eines entfesselten Kapitalismus. Dort, wo Gesundheit eine Ware ist und der Sozialstaat versagt, sterben viele Menschen. Gleichzeitig erleben wir aber den Staat als mächtigen Krisenmanager und Lebensretter. Damit dürfte das befremdliche Überleben des Neoliberalismus enden. Die Renaissance des intervenierenden Staates ist aber per se noch nicht progressiv. Wohin die Reise anschließend geht, ist abhängig vom Verlauf gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Nach der Pandemie kann es sowohl mehr soziale Spaltung, Abschottung und weniger Freiheitsrechte als auch mehr soziale Gerechtigkeit, Solidarität und internationale Kooperation geben.

Auszug aus: Dierk Hirschel: Das Gift der Ungleichheit. Verlag J. H. W. Dietz Nachf. 256 Seiten, br., 22 Euro.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -