Keine Geschichte ohne Frauen

Oft werden nur die historischen Leistungen von Männern gewürdigt. Claudia von Gélieu will das ändern

  • Lola Zeller
  • Lesedauer: 4 Min.

Zwischen der Hauptstraße und dem Ufer der Rummelsburger Bucht finden sich unter anderem Emma Ihrer, Vicki Baum, Clara Grunwald, Alice und Hella Hirsch, Paula Fürst und Hildegard Marcusson. Es sei wichtig, diese Frauen für ihre Leistungen anzuerkennen, sagt Claudia von Gélieu. Die Politikwissenschaftlerin möchte durch Führungen wie an diesem Freitagabend dazu beitragen, dass Leistungen von Frauen im Straßenbild und im kollektiven Gedächtnis sichtbar gemacht und anerkannt werden. Manchmal stelle sie sich die Frage, ob es nicht wichtiger sei, sich mit aktuellen Problemen für Frauen zu beschäftigen als mit historischen. »Das hängt aber miteinander zusammen«, sagt Gélieu. »Nur wenn wir Frauen aus der Geschichte würdigen, können wir auch in aktuellen Zeiten die Anerkennung von Frauen erreichen.«

Die Emma-Ihrer-Straße etwa erinnert an eine Sozialistin und Feministin. Die Mitstreiterin Clara Zetkins gilt als eine der bedeutendsten Personen der sozialistischen Frauenbewegung im 19. Jahrhundert. Da es Frauen seit 1848 verboten war, sich politisch zu betätigen, organisierten sich viele Sozialistinnen gewerkschaftlich und als Vertrauensfrauen in der sozialdemokratischen Bewegung. So auch Ihrer in Lichtenberg: »Gleicher Lohn für gleiche Arbeit - diese Forderung, für die Emma Ihrer damals eintrat, ist heute noch so aktuell wie damals«, sagt Gélieu.

Parallel zur Emma-Ihrer-Straße verläuft die Lina-Morgenstern-Straße. Eine große Errungenschaft Morgensterns war ab 1865 der Aufbau von »Volksküchen«, aus denen sich später Kantinen entwickelt haben. Die Volksküchen haben laut Gélieu 100 bis 150 Personen mit einer warmen Mahlzeit am Tag versorgt und so die Frauen von der unbezahlten Kocharbeit entlastet. »Die Leute, die in den Volksküchen gearbeitet haben, wurden für ihre Arbeit entlohnt«, so Gélieu. Morgenstern gründete außerdem im Jahr 1873 einen genossenschaftlichen Hausfrauenverein.

Der Alice-und-Hella-Hirsch-Ring erinnert an zwei Frauen, die zum Kreis um Herbert Baum gehörten, einer linken Gruppe, die während der NS-Zeit Widerstand geleistet hat. Sie waren außerdem Teil jüdischer Organisierung und versuchten dabei, die Situation von Frauen und Kindern zu verbessern, erzählt die Politologin. »Oft wird nur an die Männer erinnert, die Widerstand gegen das NS-Regime leisteten«, sagt sie. »Es gab aber durchaus auch widerständige Frauen.«

Für Claudia von Gélieu, die auch Mitglied im VVN-BdA ist, ist antifaschistisches Engagement auch heute noch wichtig. Gélieu gehört zu den Betroffenen der rechtsextremen Anschlagsserie in Neukölln, 2017 wurde ihr Auto abgebrannt. Als sie vergangene Woche erfuhr, dass Stefan K., der als Polizist für die Betreuung der Betroffenen zuständig war, wegen eines rassistischen Übergriffs vor Gericht steht (»nd« berichtete), war sie beunruhigt. »Dieser Mann war in unseren Wohnungen, wir haben uns oft mit ihm getroffen.«

Über ihr antifaschistisches Engagement kam Gélieu auch dazu, Stadtführungen zur Frauengeschichte durchzuführen. »Zuerst habe ich bei antifaschistischen Stadtführungen mitgemacht«, erzählt sie. »Dabei ist keine einzige Frau erwähnt worden.« Also startete sie am Internationalen Frauentag vor 32 Jahren die erste »Frauentour«. Die Nachfrage sei so groß gewesen, dass sich daraus »Frauentouren« entwickelt hat, eine Organisation, die Führungen und andere Events zur Frauengeschichte in Berlin veranstaltet. »Frauen sind immer und überall Teil der Geschichte«, sagt Gélieu, »und es ist wichtig, das auch zu zeigen.«

Die Führung findet in Zusammenarbeit mit dem Bezirk statt. Lichtenbergs Bürgermeister Michael Grunst (Linke) freut sich über das große Interesse. »Spannend finde ich, dass so viele aus dem Viertel hier kommen«, sagt Grunst. Auf die Frage, wer in Rummelsburg wohne, hatte sich etwa die Hälfte der Teilnehmenden gemeldet. Grunst erklärt, wie die Namensgebung von Straßen in Lichtenberg zustande kommt: »Es gibt eine Unterabteilung im Kulturausschuss, die Vorschläge erarbeitet und Vorschläge von Bürger*innen entgegennimmt.« Am Ende entscheide die Bezirksverordnetenversammlung.

Zwei Stunden geht die Tour insgesamt, auch danach hören die Teilnehmenden - Frauen und Männer aller Generationen - Gélieu aufmerksam zu. Eine von ihnen ist Mechthild Wolf. »Es ist so wichtig, die Wurzeln zu kennen und über Frauen in der Geschichte zu lernen«, sagt sie. Die Tour habe sie inspiriert, sich wieder mehr zu engagieren. »Ich möchte mich in der Gewerkschaft einbringen, auch wenn ich schon Rentnerin bin.«

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