Verdrängung im Zeitraffer
Die Ausstellung »Großstadt Neukölln« zeichnet die Veränderungen der vergangenen 100 Jahre nach
Auf den ersten Blick wirken sie recht unauffällig, die acht Holzregale, die den Hauptteil der Ausstellung auf dem Gelände des Gutshofes Britz ausmachen. Jedem von ihnen ist ein zentraler Ort des Bezirks Neuköllns zugeordnet, der vor 100 Jahren nach Groß-Berlin eingemeindet wurde und seit Freitag in der Ausstellung »Großstadt Neukölln 1920-2020« aus einer anderen Perspektive zu sehen ist. In den Regalen befinden sich bedruckte Würfel-Bausteine, die - je nach Anordnung - zu historischen oder aktuellen Motiven von Orten wie der Karstadt-Filiale am Hermannplatz, dem Tempelhofer Feld, der Gropiusstadt oder dem Gutshof samt nahe gelegener Hufeisensiedlung gruppiert werden können.
Neben dem spielerischen Zugang über das Zusammenfügen der Bilder durch die Besucher*innen, der vom üblichen Text-Bild-Schema angenehm abweicht, befindet sich an jedem der Regale, die wie Stationen durch die Ausstellung führen, ein kleiner Touchscreen. Hier können detaillierte Informationen zur bewegten Geschichte der Orte und ihrer Bewohner*innen abgerufen werden. Ebenfalls frei »montiert« werden können Foto-Bausteine von Neuköllner*innen, die der Fotograf Leon Kopplow in der U8 porträtiert hat. Komplettiert wird die Ausstellung von der Fotoserie »12 x Neukölln« von Gundula Friese.
Das so gezeichnete Bild des Bezirks wirkt fragmentiert und ausschnitthaft. Es ermöglicht, Erschließung, Nutzung und Wandel des Stadtraums in der Mikroperspektive zu untersuchen. Das ästhetische Prinzip der Montage, das in der Kunst des 20. Jahrhunderts die schrille Gleichzeitigkeit der großstädtischen Eindrücke erfassen sollte, findet sich hier wieder. Entgegen der Tendenz zur nostalgischen Verklärung der Stadtgeschichte wird in der Ausstellung der unaufgeregte Blick auf das historische Detail ermöglicht.
Anschaulich erzählt wird beispielsweise die Verknüpfung von stadtplanerischen Fragen mit sozialen Problemen anhand des 1962 begonnenen umfangreichen Neubauprojekts im Stil der zweiten Moderne, das zehn Jahre später Gropiusstadt heißen sollte. Die weitläufigen Zerstörungen durch den Zweiten Weltkrieg hatten zu akuter Wohnungsnot geführt, wirtschaftliche Probleme und die Schließung der Grenze zur DDR verschärften die Lage zusätzlich. In der Entwicklung des Quartiers am Reißbrett wurde zunächst die Relevanz einer Infrastruktur aus Einkaufs-, Betreuungs- und Kultureinrichtungen nicht ausreichend mitbedacht. Auch mit den in den Folgejahren unternommenen Korrekturmaßnahmen konnte die Tendenz zu Vereinzelung, sozialer Schließung und Entmischung nicht gestoppt werden.
Die Folgen einer drastischen Aufwertung von Wohnraum und der anschließenden Verdrängung werden mit Blick auf die in den 1970ern einsetzende Rekonstruktion der Altbausubstanz, die Modernisierung der Quartiere rund um das Gelände des Flughafens Tempelhof sowie die Diskussion um den Karstadt-Neubau deutlich. Wie Wohnraum als Spekulationsobjekt einen Stadtteil verändert, ist in Neukölln besonders gut erkennbar.
Die städtebaulichen Veränderungen können in Verbindung mit Aspekten der regionalen Zeitgeschichte erlebt werden. Statt der ›Wahrzeichen‹ steht Neuköllns Widersprüchlichkeit und Lebendigkeit im Vordergrund. Die Auseinandersetzung mit den vergangenen 100 Jahren zeigt nicht nur den Einfluss von Konjunkturen der Produktion auf den Lebensraum und wie das Verwertungsparadigma solidarische Nachbarschaft bedroht. Sie lässt auch die Frage nach der Idee einer Stadt der Zukunft noch dringlicher erscheinen.
»Großstadt Neukölln.1920 - 2020«. 15. August 2020 bis 4. April 2021 im Museum Neukölln.
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