- Brandenburg
- Eisenhüttenkombinat Ost
Das Werk und die Stadt
Mit einer Axt begann vor 70 Jahren der Aufbau des Eisenhüttenkombinats Ost
»Hütte, das ist für mich Identität, Zusammenhalt und Solidarität«, sagt Mirko Böhnisch, Stahlarbeiter, Jahrgang 1963. »Hütte«, das ist Eisenhüttenstadt. Und »Hütte«, das ist vor allem das Werk, ohne das es die dazugehörige Stadt nicht geben würde. Am 18. August 1950 eröffnete Fritz Selbmann, der damalige Industrieminister der DDR, die Baustelle für das Eisenhüttenkombinat J. W. Stalin, später Eisenhüttenkombinat Ost (EKO). Ganz in Arbeitermanier, mit der Rodung der ersten Kiefer, ein Axthieb statt einer Grundsteinlegung.
Der Termin wurde freilich nicht ganz zufällig auf genau dieses Datum gelegt. Schließlich ist der 18. August der Tag, an dem der Ermordung des KPD-Führers Ernst Thälmann gedacht wird. »Dabei ist die Gründung des Stahlwerks für den ersten Fünfjahrplan der DDR von großer Bedeutung«, sagt Andreas Ludwig, Historiker am Potsdamer Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung, Gründer und langjähriger Leiter des Dokumentationszentrums Alltagskultur der DDR in Eisenhüttenstadt.
»Dieses Werk wird ein Werk des Friedens sein«, zitiert die Tageszeitung »Neues Deutschland« Minister Selbmann in der Ausgabe vom 19. August 1950. Schon morgen würden Hunderte von Arbeitern, denen Tausende folgen werden, Wiese und Wald in einen großen Bauplatz verwandeln, heißt es weiter. Nicht weniger als das größte und bedeutendste Hüttenwerk der DDR sollte hier entstehen.
»Dass der Minister für den offiziellen Axthieb dann doch einige Schläge mehr brauchte, das gehört zur Legendenbildung um das EKO«, so Historiker Ludwig. »Selbmann hatte für jeden Axthieb, der für das Fällen der ersten Kiefer als Symbol für die Baustelleneinrichtung nötig war, einen Kasten Bier versprochen.« Die Arbeiter, so heißt es zumindest, hätten eine besonders dicke Kiefer ausgesucht oder gar die Axt stumpf gemacht.
Warum die Wahl ausgerechnet auf diesen Standort fiel, kann zwar selbst Historiker Ludwig nicht eindeutig mit Quellen belegen. Hier, längs des Oder-Spree-Kanals, nördlich der Verbindungsstraße zwischen Fürstenberg und Schönfließ, auf einer landwirtschaftlich kaum genutzten Fläche mit niedrigem Kiefernbewuchs, gab es jedenfalls vor allem eines: Platz.
70 Jahre später. Es ist heiß an diesem Samstagnachmittag, die endlosen Zufahrtsstraßen zum Werkseingang am nördlichen Rand von Eisenhüttenstadt wirken wie ausgestorben. Einst arbeiteten im EKO 16 000 Beschäftigte, zuletzt waren es gerade noch 2700. Damit ist das Tochterunternehmen des transnationalen Stahlriesen ArcelorMittal immer noch einer der größten Arbeitgeber in Brandenburg - und mit 190 Azubis zugleich größter Ausbildungsbetrieb in der Region.
Mirko Böhnisch beginnt seine Ausbildung 1986. »Das Werk hat schon in unserer Kindheit eine zentrale Rolle gespielt, ob bei Werksbesuchen oder durch die Schulpatenschaften oder beim Sport. Wir hatten ein tolle Kindheit.« Schon seine Großeltern waren bei EKO, sein Vater als Schlosser in der Zentralwerkstatt ebenso. Böhnisch selbst ist ein kerniger Typ. Ihn scheint nichts aus der Ruhe zu bringen. Fast nichts. Anfang vergangenen Jahres werden Umstrukturierungsüberlegungen des Konzerns ArcelorMittal publik. »Das Werk gehört zu den besten der Gruppe. Auf einmal hieß es, die Standorte Bremen und Eisenhüttenstadt sollen fusionieren«, ärgert sich Böhnisch noch heute. Die Pläne wurden abgeblasen. Zum Glück, sagt Böhnisch. Denn: »Stirbt das Werk, stirbt die Stadt.« Davon ist er überzeugt.
Bürgermeister Frank Balzer (SPD) sagt zu der abgesagten Fusion: »Das waren natürlich auch gute Nachrichten für die Stadt. Das bedeutet Stabilität für den Standort. Aktuell richten wir den Blick auf die Corona-Pandemie und die Folgen.« Und da zeichnet sich bei EKO nach eigenen Angaben wirtschaftliche Besserung ab. Wie der Konzern vergangenen Donnerstag bekannt gab, seien inzwischen nur noch 13 Prozent der EKO-Mitarbeiter in Kurzarbeit. Für den Gesamtkonzern bleibe es jedoch »die bisher schlimmste Krise«. Zwar wurden coronabedingt alle Festivitäten abgesagt, trotzdem seien »die 70 Jahre ein Grund, um zu feiern«, findet Balzer. Der Sozialdemokrat war vor seinem Umzug ins Bürgermeisterbüro 35 Jahre bei EKO, lange Zeit davon im Betriebsrat. Er kann sich noch gut erinnern, wie die Stadt nach 1990 jahrelang um den Erhalt des Werkes kämpfen musste. Die Treuhand hatte die Pläne für die Abwicklung bereits in der Schublade. »Damals war richtig was los«, sagt Stahlarbeiter Böhnisch. Besetzungen der Treuhand in Berlin, Demonstration auf der Autobahn - das Werk blieb, obgleich massiv geschrumpft. »Haarscharf entging Eisenhüttenstadt einer wirtschaftlichen Katastrophe«, sagt Bürgermeister Balzer.
Auch Balzer spricht von einer Symbiose von Werk und Stadt. Und hier mitten auf der überdimensioniert breiten Lindenallee, der Hauptmagistrale im Zentrum, wird diese Symbiose denn auch städtebaulich sichtbar. Am Ende der ehemaligen Leninallee beginnen die Zufahrtsstraßen zum Werk, in der Ferne ragen die Hochöfen empor. »Entgegen den Planungen für das Hüttenwerk bestanden für die Wohnstadt keine Vorarbeiten. Erst schrittweise wurde in langen Auseinandersetzungen herausgearbeitet, dass für das Werk auch eine Stadt aufgebaut werden sollte«, so Historiker Andreas Ludwig. Im Juli 1950 hatte der III. Parteitag der SED beschlossen, zugleich auch eine Wohnstadt für die Stahlarbeiter zu bauen, wenige Wochen später fiel die erste Kiefer. Auch wenn mit der Errichtung des Werkes begonnen wurde und erst später die Planstadt Formen annahm: »Die Wohnstadt bleibt damit auf ewig und immer mit dem Auf und Ab des Stahlwerkes verbunden bleiben«, sagt Ludwig.
»Dieser Stahl ist hier gekocht und so wird es auch bleiben«: So steht es auf einem schwarzen Klotz, prominent platziert unweit der Lindenallee. Der Stein entstand im Zuge der Kämpfe und Streiks in den 90er Jahren. Der Satz, der wie eine trotzige Drohung wirkt: Das Werk bleibt, die Stadt bleibt! Die Einwohnerzahl hat sich allerdings mehr als halbiert. 1990 lebten noch etwas mehr als 50 000 Menschen hier. Inzwischen sind es weniger als 25 000.
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