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Verschworen zum Titel
Bayern München gewinnt die Champions League. Die Motivation lieferte der verlorene Respekt der Gegner
Für den Henkelpott war offenbar der mit den größten Muskeln ausgestattete Spieler zuständig. Leon Goretzka packte die 7,5 Kilogramm schwere Trophäe für den europäischen Champion ganz lässig mit einer Hand, als die Mannschaft des FC Bayern im Hotel außerhalb von Lissabon angekommen war. Scheinbar ohne Mühe hielt er sie die paar Meter zum Eingang vor der Brust. Teamkollege Thiago Alcántara brauchte schon zwei Hände, als er sich später den Pokal auf den Kopf setzte.
Der Spanier, der wohl gleichzeitig den Gewinn der Champions League und seinen Abschied von den Münchnern feierte, hatte zuvor beim 1:0-Finalsieg gegen Paris St. Germain bewiesen, dass er doch einer für die ganz großen Spiele ist. Und nun in dieser portugiesischen Nacht schien er sich so bayerisch zu fühlen wie niemals zuvor. Er grölte voller Inbrunst die Vereinshymne »Forever Number One« und dirigierte seine Mannschaft auf der Bühne wie zuvor im Stadion. Dort hatte er zunächst Bayerns Spiel im Mittelfeld gelenkt und nach seiner Auswechslung im Stile eines Trainers die Kollegen angefeuert und instruiert. Auf die Maske, die alle Spieler auf den Plätzen hinter der Trainerbank eigentlich tragen sollten, pfiff er.
- Mit sechs Titeln in der Königsklasse liegen die Münchner jetzt gleichauf mit dem FC Liverpool. Häufiger siegten nur Real Madrid (13) und der AC Mailand (7).
- Die Bayern gewannen als erste alle elf Spiele auf dem Weg zum Titel. Die Siegesserie ist die längste in der Historie der Champions League.
- Seit 30 Pflichtspielen ist der FC Bayern unbesiegt. Die nunmehr 21 Pflichtspielsiege in Serie sind Rekord im deutschen Profifußball.
- Der Siegtreffer von Kingsley Coman war der 500. des FC Bayern in der Champions League.
- 15 Mal traf Robert Lewandowski in der Champions League diese Saison. Damit gewann er sogar zwei Triple. Denn auch in der Bundesliga (34 Tore) und im DFB-Pokal (6) wurde er Torschützenkönig.
- In Paris kam es nach der Finalniederlage zu Randalen. Schaufenster wurden eingeworfen, Fahrzeuge in Brand gesetzt. Die Polizei nahm mehr als 150 Personen vorläufig fest. In München wurden mehr als zehn Menschen nach dem Zünden von Pyrotechnik wegen Verstößen gegen das Sprengstoffgesetz angezeigt.
- Bis zu 13,6 Millionen Zuschauer sahen das Finale von Lissabon im ZDF. Die Übertragung ist damit die bisher meistgesehene TV-Sendung des Jahres 2020. Agenturen/nd
»Ich habe selten einen verschworeneren Haufen erlebt als diese Truppe«, lobte Vorstandschef Karl-Heinz Rummenigge nach dem sechsten Erfolg im wichtigsten europäischen Klubwettbewerb und dem zweiten Triple nach 2013 auf der Party, die anders als sonst nach großen Triumphen im ganz kleinen Kreis stattfinden musste.
Ob die Einheit tatsächlich so riesig wie beschrieben oder allein dem gemeinsamen Sieg geschuldet ist, zeigen oft Szenen, die sich eher am Rand abspielen. Also auch unter jenen Spieler, die nicht so viel zum Erfolg beitragen durften. Als erstes fällt einem beim FC Bayern Lucas Hernandez ein, jener Rekordtransfer des vergangenen Jahres, der dann aber nach ein paar Verletzungsproblemen in der Abwehrhierarchie weit zurückgefallen ist. Beim Champions-League-Turnier war er nur gegen den FC Barcelona zu ein paar Spielminuten gekommen. Doch nach dem Schlusspfiff war der Franzose einer der ersten Spieler, der Trainer Hansi Flick in die Arme fiel. Auch als die Spieler im Stadion und später bei der Party den Coach in die Luft warfen, war Hernandez ganz vorne mit dabei. Kein Zeichen von Frust über die eigene Reservistenrolle. Alles wird dem Erfolg untergeordnet.
Elf Siege in elf Spielen, noch niemals zuvor hatte es eine Mannschaft geschafft, alle Champions-League-Spiele einer Saison zu gewinnen. Robert Lewandowski wurde außerdem Torschützenkönig mit 15 Treffern - und vielleicht gibt es für ihn am Ende des Jahres noch eine Trophäe. Rummenigge jedenfalls zieht schon alle Fäden im Hintergrund, damit trotz Corona eine Weltfußballerwahl stattfindet. Das Finale war das einzige Spiel dieser Königsklassensaison, bei dem Lewandowski nicht getroffen hatte. Verschmerzbar, dass Kingsley Coman das Tor des Tages erzielte, denn Lewandowski darf sich endlich als Vollendeter fühlen, sieben Jahre nachdem er mit Dortmund in Wembley sein erstes Endspiel noch gegen die Bayern verloren hat.
Oft sind beim FC Bayern den großen Siegen große Enttäuschungen vorausgegangen: Dem Triumph 2001 die Last-Minute-Niederlage gegen Manchester United 1999; dem Triple 2013 das verlorene »Finale dahoam« ein Jahr zuvor. Dieses Mal war es kein singuläres Ereignis, aus dem sich die Gier speiste, sondern eine »Talsohle«, wie Thomas Müller die schwierige Phase im vergangenen Herbst bezeichnete, die in der Entlassung von Niko Kovac gipfelte. »Im November war zu lesen, dass man keine Angst, keinen Respekt mehr hat vor der Mannschaft und wie schlecht sie ist«, sagte Trainer Flick nun. Das hat bayerischen Kampfgeist geweckt.
Diese Motivation wurde gepaart mit einem Trainer, der es verstand, die in Schieflage geratenen Dinge zu ordnen und den Spielern ihr Selbstvertrauen zurückzugeben: Da waren die Routinierten, die beweisen wollten, dass sie noch gut genug für Europas Spitze sind, und zum anderen die Jungen um Joshua Kimmich, Teil einer hochtalentierten Generation, die aufs Tempo drückte, um nicht wie die Generationen zuvor zwei Anläufe zum Champions-League-Titel zu benötigen. »Die Jungs«, sagte Müller, »sind bereit zu leiden.« Und füreinander da zu sein. »Wir streiten uns darum, wer den Fehler des anderen ausbügeln darf.«
Diese Einstellung führte zu einem »Gefühl der Unschlagbarkeit«, wie es Kimmich beschrieb. Aber auch das ist nur eine Momentaufnahme, weiß Flick: »Der Erfolg ist nur gemietet. Und die Miete ist jeden Tag fällig.« Ein paar Tage Aufschub haben der Trainer und die Bayern allerdings, ehe sie als Triple-Sieger wieder liefern müssen. Die neue Saison beginnt für sie am 18. September gegen den FC Schalke 04.
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