- Politik
- Alexej Nawalny
Moskauer Nebel, made in Berlin
Eine Misere in Endlosschleife: Der Fall Nawalny und die deutschen Medien.
Manchmal überschlägt sich der Russlandjournalismus, etwa dieser Tage in der »taz«: Ein und derselbe Artikel bringt es da fertig, erst die »russischen Medien« abzuwatschen, weil diese im Fall Nawalny »von einer ›Vergiftung‹« sprächen, »als wäre diese eine bestätigte Tatsache« - um wenige Zeilen später die russischen Ärzte anzugreifen, weil diese den von Nawalnys Anhängern sofort vorgebrachten Vergiftungsverdacht auszusitzen versucht hätten. An anderer Stelle bedient sich die zuständige Ressortleiterin des grünliberalen Blattes 75 Jahre nach eben dessen Ende gewohnt geschmackssicher des Bildes eines russischen »Vernichtungsfeldzugs« gegen die Opposition - obwohl sie selbst weiter oben zwischen allerlei anderweitigen Spekulationen andeutet, die »Annahme«, das »Drehbuch« in diesem Falle werde »nicht nur im Kreml geschrieben«, sei womöglich nicht abwegig.
Auch abseits solcher Salti zeigt sich das Reden über Alexej Nawalny abermals als, freundlich gesagt, Paradebeispiel habitualisierten Missverstehens. Seine Ausflaggung als »Kremlkritiker« setzt von »Bild« über »Tagesthemen« bis zu den Linksliberalen eine stereotype Assoziationskette in Gang: Wer den »Kreml« kritisiert, verdient erstens jede Unterstützung. Zweitens geht, was immer ihm zustößt, ganz gewiss auf Putins Kappe. Der zweite, sachliche Punkt - was genau ist denn passiert, wer steht gegebenenfalls hinter der Giftattacke - ist nun bis auf Weiteres schwer zu klären. Dieser Umstand aber hat letztlich auch viel mit dem ersten, politischen Feature jener Denkgewohnheit zu tun.
Brandstifter als Feuerwehr
Denn Alexej Nawalny ist niemand, der die rückhaltlose Unterstützung einer »westlichen Wertegemeinschaft« verdient. Deutlich wurde das schon in jenem Moskauer Bürgermeisterwahlkampf von 2013, der ihm die bis heute anhaltende Sympathie des »Westens« eintrug. Die 27 Prozent, die er dem Kandidaten der Kreml-nahen Partei abnehmen konnte, erzielte er damals zu weiten Teilen mit einer üblen rassistischen Kampagne gegen Menschen aus den südlichen Ex-Sowjetrepubliken etwa im Kaukasus.
Wüste Beschimpfungen - »Kakerlaken«, deren »präzise Deportation« geboten sei -, die nachweislich falsche und unterschwellig sexualisierte Behauptung, diese Eindringlinge seien für jede zweite Straftat in Moskau verantwortlich, sodass sich die russische Frau nicht mehr auf die Straße wage, Elemente einer »Umvolkungstheorie«, der zufolge korrupte Eliten die Hauptstadt gezielt mit Migranten fluteten, Forderungen nach einer Visumspflicht für diese Länder oder gar einer Liberalisierung des Waffenrechts zum »Selbstschutz«: Es gab kaum eine einschlägig rechtsradikale Widerwärtigkeit, die Nawalny damals ausgelassen hätte. Und doch schadete all das seiner Beliebtheit im »Westen« nicht. Im Gegenteil: Als Sergej Sobjanin, »Kandidat des Kreml« und Amtsinhaber seit 2010, kurz vor der Wahl spektakuläre Razzien auf »Kaukasiermärkten« veranlasste, um dem überraschenden Höhenflug Nawalnys etwas Wind aus den Segeln zu nehmen, skandalisierte die liberale westliche Presse dieselben ganz zu Recht als rassistisch - stellte aber ausgerechnet Nawalny, dessen Hetze ja der eigentliche Auslöser gewesen war, als Gegenpol zu diesem populistischen Aktionismus hin: der Brandstifter als Feuerwehrmann.
Dieses Muster trägt noch immer, so absurd es auch ist: »Zivilgesellschaft«, »Demokratiebewegung«, »Antikorruptionskämpfer«: Auch wenn Nawalny in jüngeren Jahren - wohl mit Rücksicht auf seine westlichen Fans - seine Rhetorik etwas verzweideutigt haben mag, sind solche Etikettierungen so absurd wie der Umstand, dass eine Goodwillorganisation wie »Cinema for Peace« sich nun abermals als seine engagierte Hilfstruppe geriert. Welcher Rechtspopulist aber wetterte nicht gegen »Korruption«, was ja auch ein probates Mittel ist, von sozialen Missständen zu sprechen, ohne den Kapitalismus zu erwähnen?
Bis heute muss man nach einer realistischen Einschätzung Nawalnys in westlichen, gar deutschen Medien lange suchen. In der »taz« der jüngeren Jahre findet man dazu nicht viel mehr als den verschwiemelten Halbsatz, er habe »Wurzeln« in der »nationalistischen Bewegung«. Ansonsten ist Fehlanzeige - mit rühmlicher Ausnahme des MDR, dessen Sicht es aber regelmäßig nicht in die »Tagesthemen« schafft, wie deren Anchor Ingo Zamperoni dieser Tage wieder einmal demonstrierte.
Dieser Pippi-Langstrumpf-Journalismus, der sich Russland so hinstellt, wie es ihm passt, ist geradezu Routine. Es gibt zumal in jüngeren Jahren eine ganze Kette bizarrer Fehlleistungen, bei denen es oft nicht mehr um Wertung und Auslassung ging, sondern um Fälschung. Mal wurden Einlassungen Einheimischer zum Konflikt in der Ostukraine so falsch übersetzt, dass sich sie sich ins Gegenteil verkehrten. Mal sendete das ZDF brisante Reportageszenen »aus dem Donbass«, die aber ein gemieteter »Producer« mit Laiendarstellern in Nordwestrussland fabriziert hatte, um gefühlte oder formulierte Inhaltswünsche zu bedienen. Ein anderes Mal jubelte in den »Tagesthemen« das vermeintlich prall gefüllte Fußballstadion von Donezk einem »prowestlichen Aufbruch« zu; tatsächlich hatte dort nur der regionale Oligarch ein paar Hundert bezahlte Fahnenschwenker platziert: Der Bildausschnitt »passte«, das Narrativ erledigte den Rest. Wer erinnert sich an jenen »Putinkritiker«, der unlängst als »vom Kreml ermordet« betrauert wurde, bis er quicklebendig im Fernsehen auftrat?
Schützenhilfe wider Willen
Warum dieses Schwarz-Weiß so hartnäckig ist, warum all diese Medienschnitzer, die ja intern diskutiert wurden, kaum zu Konsequenzen führen, mag dahingestellt bleiben. Klar ist indes die Wirkung: In Russland oder in der hiesigen Diaspora - es verstehen inzwischen wohl mehr Russen das Deutsche als umgekehrt - sorgt diese kontrafaktische Polarisierung oft für Verwunderung: Was denn nun, Nawalny oder »offene Gesellschaft«? In Deutschland wiederum trägt diese permanente Frontberichterstattung nicht zuletzt zu jenem Reichweiten- und Meinungsbildungserfolg der staatlichen russischen Auslandsmedien bei, der doch als so bedrohlich gilt: Denn wann wäre es leichter, »Zweifel zu säen«, als gegenüber einem dermaßen primitiven, offen einseitigen Tenor? Eine bessere Schützenhilfe können sich RT und Sputnik vermutlich gar nicht ausmalen.
So wird der notorische Nebel, der sich mittlerweile um jedweden Moskauer Skandal rankt, zwar indirekt, aber ganz wesentlich auch in Berlin, Hamburg oder München hergestellt. Wer hat Boris Nemzov erschossen, wer Viktor Skripal vergiftet? Wer steht hinter der aktuellen - wenn es so war - und hinter den vorherigen Giftattacken auf Nawalny? Der übereilige Fingerzeig auf »den Kreml« ist längst das Kernstück von dessen öffentlicher Verteidigungsstrategie. Denn diese reflexhafte Vorverurteilung bietet auch dann ein gangbares Hintertürchen, wenn einmal tatsächlich jene Moskauer Apparate verantwortlich sein sollten, die gewiss nicht zimperlich sind.
Niemand verdient es, vergiftet zu werden, natürlich auch Nawalny nicht. Doch bietet sein Fall die Möglichkeit einer Lockerungsübung von fast unschätzbarer Bedeutung: Deutsche Medienschaffende, fasst Euch ein Herz und intoniert im Chor, was der Angesprochene womöglich gar nicht in Abrede stellen würde: »Alexej Nawalny ist ein weit rechts stehender Agitator mit rassistischen Tendenzen, der sich zwar von Straßengewalt distanziert, aber nach unseren Begriffen zwischen AfD und NPD einzuordnen ist.« Und wer sich so weit nicht vorwagt vor lauter Angst, diese Wahrheit könne den Falschen nutzen, kann auch zu einem alternativen Mittel der Realitätsermittlung greifen: etwa zu einem Interview mit dem hoffentlich bald halbwegs Genesenen zu aktuellen Fragen von Homo-, Trans-, Inter-, nicht-binärer oder genderfluider Sexualität.
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