Wer will schon nach Togo?

Eine freundliche Diktatur, ein toter Schauspieler und die Erben von Franz Josef Strauß

  • Lesedauer: 9 Min.

Menz war am Verzweifeln. Seit zwei Stunden versuchte er, mit der Togoischen Botschaft in Berlin zu telefonieren. Aber niemand hob ab. Er wollte keine Zeit verlieren, nahm ein Taxi und fuhr in die Grabbeallee 43. Er klingelte, ein verschlafener Mann öffnete die Tür. Ja, er sei die Visabehörde persönlich. Einen Pass, der auf den Namen Michael Menz lautete, habe er nicht finden können. Menz ließ sich nicht abwimmeln, schließlich bat der Mann ihn herein. In einem großen Karton lagen Pässe mit Visa-Anträgen, die der Botschaftsangestellte einfach auf den Tresen des leeren Büros ausschüttete. Menz begann in dem Haufen zu wühlen und sah sein Porträtfoto. Der Andere lachte: »Nix geht verloren!« Er schlug Menz auf den Rücken und steckte den Hunderter in seine Brusttasche. Quittungsbelege habe er hier leider keine. Der Reise nach Afrika stand nichts mehr im Wege.

Die Sonne ging unter. Die letzten Strahlen verwandelten die Wüste in ein gelbes Meer. Wenige Minuten später färbte sich die Erde grün. Hier begann der Regenwald. Die Maschine flog über Mali, dann über die politische Grenze zur Republik Niger. Ein willkürlich gezogener Strich in der Landschaft. Das Flugzeug verlor an Höhe und setzte zur Landung an. Die Boeing 737 hoppelte über eine mit Löchern übersäte Piste und rollte zu einer Baracke, die wie eine größere Telefonzelle aussah. Auf dem Dach stand das Wort Niamey.

Christoph Nix

Lomé, Hauptstadt von Togo. Der deutsche Schauspieler Hans Keuthen wird bestialisch ermordet. Michael Menz, der viele Theaterprojekte mit ihm in Togo initiiert hat, fliegt in das afrikanische Land, um herauszufinden, wer hinter der Tat steckt. Der Verdacht, der Schauspieler sei von radikalhomophoben Militärs umgebracht worden, stellt sich als falsch heraus. Während seiner gefährlichen Recherchen gerät Menz immer tiefer in die Struktur des diktatorischen togoischen Regimes, aber auch an Netzwerke französischer Industrieller und deutscher Stiftungen, die auf Franz Josef Strauß zurückgehen.

Schließlich stößt er auf eine alte, aber unvergessene Geschichte, die mit dem Besuch des damaligen Bundespräsidenten Heinrich Lübke im Jahr 1966 zusammenhängt: Lübke weigerte sich, dem damaligen Präsidenten, von dem man wusste, dass er seinen demokratisch gewählten Vorgänger umbringen ließ, die Hand zu geben.

Der Roman wirft ein erschreckendes Bild auf bestimmte Facetten und Strukturen aktueller afrikanischer Macht- und europäischer Außenpolitik und deren Kumpanei mit knallharten wirtschaftlichen Interessen. Und bietet gleichzeitig einen Eindruck von einem freien und hoffnungsvollen afrikanischen Leben.

Christoph Nix wurde 1954 in Hessen geboren. Er war viele Jahre lang Strafverteidiger, arbeitete als Clown im Zirkus Bügler und ging 1991 als Assistent von Peter Palitzsch an das Berliner Ensemble. Er ist seit 2006 Intendant des Theaters Konstanz (vorher in Nordhausen und Kassel). »Lomé - Der Aufstand« ist sein dritter Roman. Nix schöpft immer wieder aus den Theaterarbeiten und Workshops, die er zusammen mit afrikanischen Theatern in Uganda, Togo, Malawi, Burundi oder Ruanda veranstaltet.

Der Flughafen machte einen erbärmlichen Eindruck. Keine Gangway. Keine Plakate oder Leuchtschriften. Die Nationalfahne vom Winde verweht. Alte, offenbar kaputte Militärfahrzeuge standen herum zwischen alten Bussen und Eisenschrott. Passagiere irrten über das Rollfeld. Michael Menz war erleichtert, Flugangst hatte ihn gebeutelt. Aber er hatte sich zu früh gefreut, er war noch nicht am Ziel, es war lediglich eine Zwischenlandung. Es würde noch einmal hinauf und nach wenigen Minuten wieder hinuntergehen. Es war der billigste Flug, der im Internet zu finden gewesen war. In den folgenden Monaten würde der Niger Air die Starterlaubnis für europäische Flughäfen entzogen werden. Die aussteigenden Passagiere eilten auf die Baracke zu, huschten durch die Glastür und wurden verschluckt.

Der Mann neben ihm musste lachen, als er ihm ins Gesicht sah. »Das ist Afrika«, sagte er, »aber alles geht gut. Irgendwie. Das erste Mal auf dem Kontinent?« Menz schüttelte den Kopf: »Nein«, sagte er, dann stand er auf und ging zur offenen Flugzeugtür. Er wollte den Sand riechen, die Pflanzen, die Menschen, das Land: Niger. »Sie dürfen nicht raus. Sie haben kein Visum.« Der Steward versuchte freundlich zu sein, aber es gelang ihm nicht, er war ungehalten. »Nur einmal die Hand raushalten, nigrische Luft spüren?«, fragte Menz, der Mann schüttelte wortlos den Kopf. Ein älterer Mann ohne jeden Humor. Heruntergezogene Mundwinkel und Tränensäcke. Ein Weißer bei der nigrischen Fluggesellschaft muss eine besondere Geschichte haben. Menz ging zurück auf seinen Platz. Sein Nachbar trank aus einer Büchse Bier, lächelte ihm zu. Auf die Frage, was er beruflich mache, überlegte er, so als habe er nicht genau verstanden, und dann kam die Antwort mit einer Gegenfrage: »Taxi, und du?«

»Theater, immer mit anderen.« Die beiden Männer grinsten.

Ob es noch was zu trinken gebe, fragte Menz den Steward, aber der schüttelte wieder den Kopf. Er schloss die Tür, die Maschine rollte an, raste über das Flugfeld und hob ab. Der Afrikaner aus Paris, der Pierre hieß und aus Togo kam, reichte Menz seine Bierbüchse.

»Danke.«

»Das ist Afrika.«

»Ja. Gefällt mir.«

»Wir sehen uns wieder? Hotel IBIS am Boulevard Charles de Gaulle.«

Pierre legte ihm freundlich die Hand auf die Schulter, Menz spürte den Druck und den Schweiß auf seinem Hemd.

Als Menz in Lomé die Empfangshalle des Flughafens betrat, wartete der Vertreter des Botschafters auf ihn. Ein jüngerer, höflicher Mann, etwas zu dick, krauses Haar, lustiges Gesicht. Rasch wurden Menz die Koffer ausgehändigt, sein Pass abgestempelt. Wenige Minuten später saßen sie in einer großen, weißen BMW-Limousine und fuhren durch die Nacht.

»Es gibt kein Leichenschauhaus in Lomé, wie wir das kennen«, sagte Dr. Trenk, »die Toten liegen alle im Keller der Städtischen Kliniken oder im Militärkrankenhaus.« Menz nickte nur. Er schaute mit leeren Blicken aus dem Fenster. Trenk verstand, ließ ihn erst einmal ankommen und las die Mails auf seinem iPhone. Die fremde Stadt im Dunkeln zog an Menz vorüber wie in einem Film. Manches ließ sich nur erahnen, die Seitenstraßen waren dunkel und leer, die Boulevards breit und frisch geteert. Lange schon hatten die Chinesen begonnen, die Straßen in Togo zu erneuern, mehr noch, die Landkarte Afrikas neu auszurichten. Die Straßen waren das eine, das andere die Regierungspaläste. In Mauretanien, Djibouti, Mozambique und dem Sudan wurden sie von China gebaut und den Regierungen schlüsselfertig übergeben. Für Malawi und Sambia gab es bereits Pläne für den Landkauf, um Getreide anbauen zu können. Die Kommunistische Partei Chinas hatte den Fortschritt in die Hände genommen, während die Europäische Union ihre politische Aufgabe in Afrika offensichtlich verschlafen hatte. Den Deutschen gehörten die Ruinen, die Franzosen besaßen die Häfen und den Rest der alten kolonialen Welt. Es gab eine Franz-Josef-Strauß-Straße und den Boulevard Charles de Gaulle.

Trenk plauderte, er habe Geographie studiert und seit achtzehn Monaten lebe er mit seiner Frau und den drei Kindern in Togo. Ein ungewöhnlicher Aufstieg, dachte Menz, er ist kein Jurist und mit Mitte dreißig schon Botschafts-Vertreter. Als habe Dr. Trenk seine Gedanken gelesen, fügte er hinzu: »Wer will schon nach Togo? Wollen Sie schlafen? Oder haben Sie noch Lust auf ein Bier? Im Hotel oder in einer Bar?« Sie einigten sich auf das Hotel. Menz hatte den jungen Schauspieler aus seinem Ensemble überredet, nach Afrika zu gehen. Er hatte ihm gesagt, Togo sei ein Land für Afrika-Einsteiger. Zweifellos eine Diktatur, aber eine freundliche Form davon, kein Bürgerkrieg und mitten in der Hauptstadt sogar eine Deutsche Klinik und ein Hofbräuhaus. Aber Menz hatte sich geirrt. Lomé hatte sich verändert.

Sie fuhren durch die Rue de Cantine de l’aéroport, später bog der Chauffeur in die Avenue du Général Nanguibe Antoine ein. Die Stadt war heller geworden. Es gab mehr Licht, und selbst die kleinen Läden hatten beleuchtete Reklameschilder. Er sah Girlanden und Bettler, viele Kinder, Straßenkinder, dazwischen ein paar Tannenbäume aus Plastik und Papier. Die Menschen waren auf den Beinen, waren unterwegs, suchten nach Arbeit und Brot, suchten ihr Glück. Da gab es sogar eine Pizzeria - Menz lächelte - und dort ein Fahrradgeschäft. Sie fuhren über eine Brücke, die beide Seiten des kleinen Kanals miteinander verband, über alte Eisenbahnschwellen, und jetzt erkannte Menz, wo sie waren, im Regierungsviertel, bei den Palästen aus der Kolonialzeit und in Kürze am Meer. Er sah die Palmen und den Strand, ein paar Hütten und sogar zwei Restaurants in den Dünen.

Er hatte das IBIS-Hotel gewählt, neunzig Dollar die Nacht, das ist viel für Togo, aber für Europäer ein normaler, ein guter Preis. Der Botschaftswagen fuhr vor, die Türen wurden aufgerissen und Menz bekam eine Ahnung davon, wie es war, wenn man so lebte, gut behütet und abgeschottet gegen die Armut dieser Welt, für die man dann gerade noch einen melancholischen Blick aus dem Auto übrig haben würde. Mit Trenk musste man keine erzwungene Konversation betreiben, er verstand sofort, wie sich einer wie er fühlte. Er spürte, dass der alte Mann den Luxus des Hotels genoss, aber gleichzeitig die isolierte Welt der diplomatischen Privilegien ablehnte.

Menz wollte zunächst einmal aufs Zimmer, Koffer hinwerfen, die Matratze ausprobieren, entscheiden, ob er die Klimaanlage benutzen solle oder nicht. Dann wieder hinunter in die Hotelhalle. Es hätte eine gute Zeit für Menz werden können, gäbe es nicht diesen traurigen Grund für seine Reise. Er wollte einen toten Schauspieler nach Deutschland holen. Mehr noch, einen seiner Mitarbeiter, für dessen Tod er sich verantwortlich fühlte. »Gleich morgen fahren wir in die Rechtsmedizin«, sagte Trenk. Dann klingelte sein Telefon, es war seine Frau. Sie war ungeduldig, kannte diese Vertröstungen. Immer waren die anderen Menschen wichtiger als die Familie, immer zuerst der Job und die Karriere. Es ist bequem für deutsche Diplomaten in Afrika, ihre Frauen in traditionelle Rollenmuster zu drängen. Trenk beendete das Telefonat und suchte nach der Zigarettenschachtel in seinem Jackett.

Menz freute sich nach dem Einchecken im IBIS über seine ersten französischen Brocken und wurde schnell sicherer im Gebrauch von Vokabeln und Redewendungen. Sie gingen auf die Terrasse, die Kellnerin brachte ihnen Bier. »Ich bin ein Ausgeliehener aus dem Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Wir sind ein bisserl anders«, flüsterte Trenk, »wir kommen vom Sozialen und sehen die Lebensumstände und weniger die Machtverhältnisse unter dem Gesichtspunkt: Wo finde ich da meinen Platz.«

»Verstehe«, brummte Menz und musste an den Toten denken. Den Rest des Abends blieb er schweigsam, bis Trenk sich verabschiedete: »Schlafen Sie gut. Ich hole Sie um 9 Uhr ab.«

Menz setzte sich in einen Sessel im Foyer. Über der Rezeption hing ein großes Wandgemälde. Menz hatte es zuvor nicht beachtet, aber jetzt hatte er Zeit. War es Kitsch? Zu grelle Farben? Im Zentrum des Bildes befanden sich drei mit Stroh bedeckte Hütten. Davor saßen drei lachende Frauen auf einer Bank. Sie trugen bunte Kleider, eine nur einen Rock. Darunter eine Marktszene. Zwei Frauen feilschten um Fische, drei andere stampften Mais, und eine abseits stehende Frau trug einen Korb auf dem Kopf. Sein Blick tastete das Bild ab und er hoffte, irgendwo auch einen Mann zu entdecken. Aber außer den Frauen sah er nur Fische und Menschen, die Androgyne waren, keinem Geschlecht zuzuordnen. Aber halt! Da streckte doch eines dieser Wesen weit die Zunge heraus und schaute gut erkennbar in eine bestimmte Richtung. Menz folgte diesem Blick und da sah er das Porträt des Präsidenten von Togo. Er lachte auf und zog damit die Aufmerksamkeit des Nachtportiers auf sich. Er fühlte sich ertappt. Menz war gerade dabei, die kleinen Geheimnisse des Landes zu entdecken.

Christoph Nix:
Lomé - Der Aufstand
Transit-Verlag
160 S., geb., 18,00 €

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.