Jetzt also auch einer von denen

Ulrike Almut Sandigs Helden sind allein zu Haus im Land der Monster

  • Lesedauer: 9 Min.

Du kennst die Schuhfa nicht?, fragte Marcel. Das Butterflymesser wirbelte vor ihm in der rauchigen Luft und schnitt sie in Fetzen.

Viktor und die anderen standen in der Bushaltestelle am Fußballplatz und teilten sich eine Stange Lucky Strike. Der Rasen vor ihnen war mit roten Metallrohren eingefasst, in denen der Wind schiefe Töne pfiff wie in den Bootsmasten eines verlassenen Hafens. In den Fenstern des Sportvereins war es dunkel, das Spiel heute war ausgefallen. Nicht am neunten November, hatte der Trainer gesagt, und nun standen auch einige von denen vor der Bushaltestelle, die Marcel und seine Jungs sonst anfeuerten. Mann, die Schuhfabrik, sagte Marcel und schnippte seine glühende Kippe übers Tor. Mein Alter hat dort früher gearbeitet. Feuerzeuge klickten, Gemurmel, ein Mädchen mit ausrasiertem Nacken und gezupften Brauen lachte über etwas. Gute deutsche Maßarbeit, sagte Marcel unbeirrt, nicht der Fidschikram, den du heute so kriegst. Das Mädchen drehte sich gelangweilt zu Marcel um. Aber jetzt ist da so ein Zeckenclub drin, sagte er. Da spielen die Kirchendiebe und anderer Kleinpöbel, die Beatsteaks waren schon da und noch ganz andere degenerierte Musik! Zustimmendes Gemurmel. Leute, die verticken Koks und alles. Jemand pfiff durch die Finger. Ein anderer lachte und legte sich eine kleine hellblaue Tablette auf die Zunge. Crack!, rief Marcel. Das ganze volkszersetzende Gift aus Polen lagert dort.

Ulrike Almut Sandig

Ruth spielt Geige und hat Angst vor Vampiren. Sie wächst in einem Pfarrhaus in der ostdeutschen Pampa auf. Doch Gott ist kein Parteisekretär, um dessen Schutz man buhlen könnte. Ihr bester Freund Viktor hat einen Mondglobus und Falten im Gesicht. Er fürchtet sich nur vor seinem Scheißschwager. Aber dann findet er diesen Schalter in seinem Kopf, um rein gar nichts zu empfinden. Und wird selbst zum Fürchten.

Was Gewalt bedeutet, wissen sie beide. Hier, wo der Braunkohleabbau ganze Dörfer und Wälder verschlingt, hilft man sich am besten selbst. Viktor macht jeden Tag Sit-ups und rasiert sich eine Glatze. Dass einer wie er als Au-pair nach Frankreich geht, versteht niemand. Doch für Viktor ist es überall besser als zu Hause. Und Ruth? Die flüchtet sich ins Geigenspiel. Wohin es die beiden auch verschlägt, überall werden sie von Gewalt eingeholt. Wann also schaut Ruth von ihrer Geige auf? Und vor allem: Wie rettet man einander?

»Monster wie wir« ist der erste Roman der gefeierten Dichterin und Klangkünstlerin Ulrike Almut Sandig. In funkelnder Prosa voll harter Beats schildert sie ihre Generation, geprägt von Um- und Aufbruch, von Identitätsverlust und auf der Suche nach Selbstbestimmung.

Ulrike Almut Sandig wurde 1979 in Großenhain geboren. Bisher erschienen von ihr vier Gedichtbände, drei Hörbücher, zwei Erzählungsbände, ein Musikalbum mit ihrer Poetry-Band Landschaft sowie zahlreiche Hörspiele. Ihre Gedichte wurden verfilmt und übersetzt, für ihr Werk erhielt sie zahlreiche Preise. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin.

Ey, seid doch mal leise, rief das Mädchen, der Marcel will euch was sagen!

Heute Nacht ist da Party, rief Marcel und breitete die Arme aus. Da gehen die alle hin! Die ganzen Zecken, die Punks, die Kiffer, die Gymnasiasten! Er legte seinen Arm um Viktor, der ihn längst überragte. Natürlich nicht die ordentlichen Gymnasiasten wie unser braver Ukrainer hier, sagte Marcel und lachte. Er war der Einzige, der mit Viktors Abstammung nicht völlig danebenlag. Das Mädchen mit den gezupften Brauen hatte sich währenddessen vor ihnen aufgebaut. Sie zog an ihrer Zigarette und blies Marcel und Viktor Rauch in die Gesichter. Ihre fedrigen Haare verdeckten fast die dunkel geschminkten Augen. Und?, fragte sie. Marcel riss die Arme hoch. Seine Armbanduhr schimmerte im Zwielicht des trüben Nachmittages. Na, wir gehen da hin!, rief er in die Runde. Wir wollen auch ein bisschen Spaß haben!

Gegen ein Uhr in der Nacht hielten die Autos vor dem Eisengatter, das zur Fabrikhalle an den Industriegleisen herunterführte. Es ist Zeit zu handeln, Zeit zu handeln, grölten Stuka aus den Boxen des Golfs, auf dessen Rücksitz, eingeklemmt zwischen zwei Kumpels seiner Statur, Viktor saß. Deutschland muss und wird sich verwandeln! Im Kofferraum klirrten die Brandflaschen in den Bierkästen, man hatte sich die Stunden mit Bastelarbeiten vertrieben. Zeit zum Einheizen, hatte Marcel irgendwann gesagt und die Baseballschläger aus seiner Privatsammlung verteilt, und Viktor hatte seinen in der Hand gewogen, beeindruckt vom Gewicht und der Maserung wie der auf alten Instrumenten. Lasst es krachen, hatte das Mädchen mit dem ausrasierten Nacken am Steuer gesagt, als Viktor mit den anderen aus dem Wagen stieg, aber bummelt nicht rum. Wenn die Bullen kommen, sind wir hier oben weg!

Viktor spürte die Abgase der laufenden Motoren warm im Nacken, als er hinter Marcel und den anderen die schmale Treppe hinter dem Gatter ins Clubgelände hinunterstieg. Unten sah es unordentlich aus. In Büschen und Unkraut hingen Lichterketten, auf Mauerresten und herumliegenden Balken hockten die Zecken mit ihren wirren Frisuren, dichter Rauch stieg aus ihren geöffneten Mündern. In der Ecke ein großes Lagerfeuer, wo sie sich drängten, lachten und einander weiß Gott was zwischen die Lippen schoben, wie Viktor im Zwielicht zu erkennen meinte. Neben ihm standen zwei langhaarige Mädchen im Gebüsch und knutschten. Sie hielten ihre Augen geschlossen, als Viktor und die anderen sich an ihnen vorbei zum Eingang schoben. Erst dort wurden die Baseballschläger aus den Jacken geholt. Der Einlasser, ein alter Bekannter von Marcel, konnte noch Scheißnazis! brüllen, da blutete ihm schon die Fresse. Während er auf der Seite lag und sich unter Marcels Flanken krümmte, stieg Viktor über ihn hinweg. Die Decke des Clubs war mit Militärnetzen bespannt, in denen unzählige Schuhe hingen. Sie erinnerten ihn an einen Schulbesuch in Buchenwald, wo er von seiner Jahre zuvor entwickelten Fähigkeit profitiert hatte, den Schalter umzulegen und rein gar nichts zu empfinden. Diesen nützlichen Schalter hatte Viktor schon im Wagen des Mädchens umgelegt, sodass er jetzt lachend ausrufen konnte: Hier sieht’s ja aus wie im KZ!

Sie schlugen den Club zusammen. Sie fegten die Flaschen von der Bar, dass die Glasscherben flogen. Sie sprangen über die Theke und zertraten die dekadenten Cocktailmixer, zerdrückten die Reagenzgläser für die Bloody Marys und schütteten feixend den Inhalt der Kasse ins Dixi-Klo am Hinterausgang, denn es ging nicht ums Geld. Es ging auch nicht ums Prinzip. Aber in den gekrümmten Rücken, den in Abwehr angewinkelten Armen und der Fliehkraft des Baseballschlägers in Viktors Hand lag etwas, das seiner Vorstellung von Freude ziemlich nahe kam.

Bis er die Tanzfläche sah. Trotz der fast völligen Dunkelheit erkannte er Ruth sofort. Sie stand am Rand und bewegte sich versunken zu Beats, die unbeirrbar aus den Boxen dröhnten, obwohl der DJ längst abgehauen war. Es war irgendeine Coverversion dieses alten Malaria-Songs, Kaltes klares Wasser schlug Viktor aus den Boxen entgegen, während Ruths schmale Gestalt sich leicht vorgebeugt zu den monotonen Beats bewegte, als gäbe es nichts sonst auf der Welt. Sie hatte jetzt kürzere Haare, die zwischen ihren Tanzschritten immer wieder ihre Augen freigaben. Viktor hielt inne und ging näher heran. Stroboskoplicht erhellte ruckartig die Tanzfläche, so dass Ruth bei jedem Beat anders aussah, ein Daumenkino mit herausgerissenen Seiten. Über meine Hände, sang eine Frauenstimme, Ruths Fingernägel sahen immer noch so abgebissen aus wie damals beim Salzteigbacken in einem früheren Leben, über meine Arme, über meine Schultern, so feine Ohren, und trotzdem kriegt sie nicht mit, dass die vorderen Räume gerade zerlegt werden? Über meine Beine, über meine Schenkel, er betrachtete Ruth, wie er sie noch nie betrachtet hatte, nicht bei ihren selten gewordenen Treffen auf dem Schulhof und nicht Jahre davor, als er noch keinen Freund wie Marcel hatte und sie die schönste Mutter der Welt. Zum ersten Mal betrachtete er sie, wie ein Fremder eine Fremde betrachtet. Als wäre jede ihrer Bewegungen eigentlich an ihn gerichtet. Unter ihrem karierten Hemd zeichnete sich ein erstaunlicher Busen ab, der weich im Beat wogte, über meine Brust, ich mache meine Augen zu! Als er endlich hinter dem verlassenen DJ-Pult stand und die Steckerleiste rausriss, blieb Ruth abrupt stehen und sah sich um. Außer ihnen war niemand mehr im Raum. In dieser Boxenstille wurde das Gepolter und Gegröle aus den anderen Räumen mit einem Mal ohrenbetäubend. In der Chill-out-Zone knallte es wie Silvester, aus dem ViP-Raum drang grelles Deckenlicht und Gefluche, weil Marcel auf der Suche nach gutem Zeug die Matratzen aufschlitzte, irgendwo splitterte Glas. Ruth stand mit hängenden Armen am Rand der leer gefegten Tanzfläche und starrte Viktor überrascht an. Am liebsten hätte er sie in seiner Bomberjacke versteckt. Hau ab, Mann, rief er ihr zu. Aber sie haute nicht ab.

Langsam überquerte sie die Tanzfläche. Der Stroboskopstrahler war immer noch an. Ruckartig stieg sie hinters DJ-Pult und baute sich vor Viktor auf. Sie reichte ihm bis zur Schulter. Ihre Brüste waren nur noch eine Haaresbreite von ihm entfernt. Bist jetzt also auch, sagte sie ruhig, einer von denen. Dann drehte sie sich um und verließ, quer durch die Chill-out-Zone mit ihren heruntergerissenen Moskitonetzen, vorbei an einem ausbrennenden Molotowcocktail, in aller Ruhe den Club. Viktors Freude war verflogen. Ruth! Warte! Als er aus seiner Starre aufwachte und ihr hinterherstolperte, war sie weg.

Viktor trat nach draußen. Die Nacht war kälter geworden. Ein Stück Mond hing halb abgerissen vom Himmel. Der Hof war leer gefegt, die knutschenden Mädchen und Zecken über alle Berge. Es schien nicht viel Zeit vergangen zu sein, denn die Autos standen noch immer mit laufenden Motoren oben am Straßenrand, das Lagerfeuer brannte. In seinem Schein entdeckte Viktor eine Bewegung. In seiner eigenen Kotze lag ein Typ. Hatte wohl schon vor ihrer Aktion zu viel abgekriegt. Viktor fühlte wieder das harte, warme Holz des Baseballschlägers in seiner Hand. Der schwarz gefärbte Iro des Typen lag buschig ausgebreitet auf der Holzbank, auf der er wie ein Baby schlief. Er war älter als er, Viktor schätzte ihn auf fünfundzwanzig. So alt wie sein Scheißschwager.

Viktor hob einen Springerstiefel und nagelte den Haarfächer mit seiner Sohle auf die Bank. Als sein erster Schlag im Bauch des Mannes landete, riss der Punk die Augen auf und stöhnte. Mit der Monotonie einer Maschine ließ Viktor den Baseballschläger auf den sich Krümmenden niederfedern, der noch die Arme über den Kopf kreuzte und heulte und spuckte, Viktor aber drosch mechanisch auf Bauch, Knie und Brustkorb ein, bis er nur noch blubberte und dann so still war, dass Viktor deutlich das leise Knacken des eigenen Schalters hörte, der sich wieder umlegte, und dann war es endlich auch in ihm angenehm still.

Bist du bescheuert?, schrie Marcel in seinem Rücken und riss ihn am Kragen nach hinten. Du schlägst ihn ja tot! Er packte Viktor am Nacken und stieß ihn die Treppe hinauf, wo die Mädchen in den Autos warteten. Sie beschleunigten mit Wucht und angelten schon die ersten Bierflaschen aus dem Kofferraum, zur Feier dieser gelungenen Säuberungsaktion, wie das Mädchen mit den gezupften Brauen sagte. Aber es wollte einfach keine Freude mehr aufkommen. Und während Marcel geradeaus schaute und sich mit der Hand übers Gesicht wischte, während die Stille in Viktors Kopf unmerklich in Gedröhne überging und Marcel sagte: Scheiße, du kennst keine Grenzen, was Viktor wegen des Lärms nicht ganz verstand, fuhr die klamme Nachtluft ins offene Wagenfenster und über ihre schweißnassen Gesichter, oder waren es Tränen, aber das konnte nicht sein.

Sie waren schon kurz vor der Elbbrücke, als sie die Sirenen hörten. Na endlich, murmelte Marcel, die kümmern sich drum. Viktor kurbelte die Scheibe wieder hoch, das Mädchen schaltete auf Play. Es ist Zeit zu handeln, Zeit zu handeln, wummerte aus den Boxen der Kofferraumablage hinter ihnen, Deutschland muss und wird sich verwandeln. Aber es hörte sich ganz anders an als auf der Hinfahrt.

Ulrike Almut Sandig:
Monster wie wir
Schöffling & Co.
232 S., geb., 22,00 €

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.