Schmalspurganoven proben die Revolution

René Pollesch mit »Melissa kriegt alles« am Deutschen Theater in Berlin

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 7 Min.

Man sitzt sehr bequem im Deutschen Theater, rechts und links sind immer zwei Plätze frei. Das ist ein ruinöser Corona-Virus-Luxus, an den man sich besser nicht gewöhnen will. Immerhin, es wird wieder gespielt.

Und René Pollesch ist so etwas wie ein absoluter Spieler, man könnte auch sagen: ein Virus im Körper des Staatstheaters. Dessen repräsentative Glätte räumt er hier mit seinem neuen Stück »Melissa kriegt alles« in knapp 90 Minuten gänzlich ab. Übrig bleibt ein Trümmerfeld der Sinnzusammenhänge. Ein philosophischer Stammtisch für Eingeweihte und eine Spielwiese des Absurden für Neuankömmlinge im Pollesch-Paralleluniversum.

Früher, also irgendwann in den Neunzigern, da wusste man noch, woran man bei Pollesch ist. Da spielte er in irgendwelchen Nebenspielstätten meist Filme nach, ich erinnere mich an Cassavetes’ »Frau unter Einfluss«: Die Souffleuse leistete (als einzige) Schwerstarbeit und von der Handlung des Film blieb nicht viel übrig, die Kulisse dominierte ohnehin - ein Kaktus (Wüste) und ein Stuhl, auf dem der Senior Joachim Tomaschewsky müßig herumsaß, fertig war die Pollesch-Szene. Aber man hatte hinterher wenigstens einen echten Grund, sich das Video zu besorgen. So etwas merkt man sich über Jahrzehnte.

Ende letzten Jahres kam von Pollesch am DT »Donna« zur Premiere, »Melissa kriegt alles« schließt nun direkt daran an. Die Ratlosigkeit, zur höheren Bühnenphilosophie erhoben, gebiert immer neue Ungeheuer. Beides sind selbst geschriebene Stücke, die zugleich auch Anti-Stücke sind, die irgendwie immer um das Thema Revolution und Theater kreisen.

Die wahren Philosophen sind jene, die keine geraden Satz sprechen können, weil sie die Legitimität einer gegenteiligen Äußerung immer gleichzeitig mit in Rechnung stellen. Das macht Pollesch-Abende so erhellend, weil sie irgendwie direkt von der Resterampe des Abendlandes geholt scheinen, aber nicht larmoyant, sondern so, als wollte er damit eine Expedition in den Untergrund ausstatten. Auch in der Kanalisation unter dem Deutschen Theater muss ein Phantom wohnen, mit dem jederzeit zu rechnen ist!

Vielleicht wohnen in den Kellern unter dem Theater tatsächlich zahlreiche stellungslose Dramaturgen, die unaufhörlich über Brecht und Heiner Müller, die Krisen der Welt und die Neurosen der Schauspieler räsonieren, ohne jemals zur Tat zu schreiten, zu welcher auch immer. Niemand außerhalb ihres Kabuffs bemerkt auch nur ihr göttergleiches Getöse. So minimalistisch sind die echten Dramen von heute. Der Motor des rollenden Diskurses stottert bedenklich, aber bleibt nie stehen (auch eine Regieleistung). Immer funkelt durch all den Trash in höherer Mission eine böse Lust an der Destruktion der Kulissenwelt. Pollesch ist (noch) Castorfs U-Boot am Deutschen Theater, ab kommender Spielzeit darf man sich auf gewaltige Texttrümmerorgien unter seiner Intendanz an der Volksbühne freuen.

Vielleicht klingt das nicht für jeden sofort nach einer starken Empfehlung dieses Abends. Aber Pollesch ist derzeit vielleicht der rabiateste und zugleich verspielteste Aufklärer an deutschen Bühnen. Er glaubt all den schier unumstößlichen Wahrheiten des Tages nicht, denn er macht den einfachen rhetorischen Stoß-Test - er rempelt sie an und siehe, das Kartenhaus der falschen Gewissheiten fällt jedesmal in sich zusammen.

Gleich zu Beginn sitzen wir vor dem geschlossenen weißen halbhohen Vorhang (hier respektlos »Brecht-Vorhang« angetitelt), über dem Videobilder eines angeregten Publikums laufen. Es sieht aus, als hätten all die fröhlichen Gesellschaftsbilder einen Mundschutz verpasst bekommen. Mit dieser neuen Askese ist auch künftig zu rechnen. Gleichzeitig dröhnt Ravels »Bolero« in voller Lautstärke - es klingt geradezu kriegerisch. Die Bühne von Nina von Mechow: enge Stuben mit Hammer-und-Sichel-Tapete. Hier wird der Ausbruch geplant in eine neue weite Welt! Oder zuvor der Einbruch in eine Bank, um das zu finanzieren. Per Video schauen einige Gestalten sehr von oben herab in die enge Welt der gewöhnlichen Menschen - die Götter der Revolution oder ihre Voyeure, wer weiß das schon.

Die Revolution jedenfalls ist nur noch als Medienereignis denkbar. Sonst verpassen sogar die notorischen Umstürzler ihren Beginn. Ganz ohne kriminelle Energie ist sie natürlich nicht zu denken. Das ist das Stichwort für Martin Wuttke als Ray, mit Vollbart, Fellmantel, Fellmütze und viel zu großen Holzpantinen (folkloristisch bis zum Exzess: die Kostüme von Tabea Braun), ein Hausmeister jeder revolutionären Situation. Er hat einen Plan und mit Brecht wissen hier alle, wie ein solcher ausgeht. Auch dem zweiten ergeht es nicht besser. Aber im Misslingen stecken Chancen - hier bedient sich Pollesch bei Woody Allen, der in »Schmalspurganoven« einen Bankraub um allzu viele Ecken herum plant, mit unterirdischen Gängen und einer Keksbäckerei zur Tarnung der illegalen Tiefbauarbeiten. Der Gang verläuft sich irgendwo, aber nicht in der Bank, doch die Kekse werden zum Hit. Aus Tarnung wird ein ganzes hochprofitables Keksimperium. Darin erkennt Pollesch einen genuinen Beitrag zur Revolutionstheorie. Vergiss die Pläne, oder anders: Rechne neu mit den Chancen ihres Scheiterns!

Marin Wuttke ist in dieser Art von Short-Story-Dramaturgie in welthistorischer Absicht wieder einmal grandios. Ein stotternder Berserker, der die Welt auszutricksen versucht und damit gerechterweise bei sich selbst beginnt. Der Mantel fällt irgendwann in der Hitze des Spiels, aber alle Scheinformen des Seins bleiben. Lebe einer die Dialektik und werde dabei nicht verrückt! In der Mitte der Bühne steht eine Stange, wie man sie aus dem Sportunterricht kennt. Das weckt unangenehme Erinnerungen, aber Wuttke klettert sie so entschlossen herauf, als sähe er ihr Ende nicht, das unvermeidliche Herabrutschen ist für jeden Revolutionär eine einzige Demütigung.

Wuttke also ist - egal ob er die Stange hinaufklettert oder herabrutscht - das Ereignis des Abends, einer von Sudermanns »Alten vom Berge« aus »Sturmgeselle Sokrates«, der aus Senilität alles Geschehene vergessen hat und das offensichtliche Ende für einen Anfang hält. Vielleicht hat er ja sogar recht, wer weiß das schon.

Aber ihm fehlt ein ebenbürtiger männlicher Mitspieler. Bei »Donna« war es Milan Peschel gewesen, an dessen notorischer Handlungsblockadehaltung er sich in Höchstform bringen konnte, hier aber ist es nur Kathrin Angerer, die ihm spielerisch Paroli bieten kann. Sie ist ebenso wie Wuttke virtuos in der rhetorischen Offensivverteidigung, ihre Angriffe wirken wie vorauseilende Kapitulationen und sind gerade darum erfolgreich. Während Franz Beil, Jeremy Mockrigde und Bernd Moss eher ausrechenbar bleiben, so dass zwischenzeitlich sogar ein Intensitätsabfall der Inszenierung droht, gelingt es Katrin Wichmann (eine Schauspielerin, deren Spielintensität gewöhnlich aus Krafteinsatz und nicht aus Zwischentönen resultiert), in ihrer ganz direkten Art zu sprechen dann doch, eine unheimliche Szenerie zu schaffen, die wie unaufhaltsam ins Gegenwärtige hinüber driftet. Was etwa ist ein E-Casting, von dem sie spricht? Man filmt sich selbst mit seinem iPhone, wozu und warum weiß niemand. Es ist sinnlos, wie so vieles, was man dennoch tut, im Glauben, das gängige Spiel nicht stören zu dürfen.

Wer das Paradox feiert wie Pollesch und seine Schauspieler, für den liegt der hohe Ton gleich neben dem Trash. Die die Welt verändernde Theorie muss man sich am Wühltisch mit den Sonderangeboten selbst erobern, sonst holt sie sich ein anderer: »Oder was die Kommunisten hinkriegen müssen, die kommunistischen Revolutionäre, das Paradox eben, das die Rechten nicht hinkriegen. Das Paradox, dass ich gleichzeitig eine neue Gesellschaft aufbauen und alles revolutionieren will. Der Kommunismus verlangt Leben und Tod gleichzeitig. Linke Revolutionäre sind permanent in Trance, während die Rechten quasi so aussehen, aber eigentlich eher stumpf sind.« Da kommt dann auch Brecht wieder ins Spiel, aber »Brecht in Trance« (der sich hier wie ein morgenrötlicher Faden durchzieht), das ist jemand, der seine eigene Askese transzendiert, jedenfalls ab und zu - und vor allem ist es ein anderes Thema, vermutlich eines, dem sich Pollesch in seinem nächsten Stück zuwenden wird. Dann endlich am eigenen Haus.

Nächste Vorstellungen: 3.9., 4.9., 5.9., 6.9., 7.9.

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