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Schrumpfen mit Aussicht
Ein Stadtrundgang mit der Architektin Dorit Baumeister, die Oberbürgermeisterin in Hoyerswerda werden will
An einer Kreuzung im Osten von Hoyerswerda zeigt die Architektin Dorit Baumeister ihren Gästen beim Stadtrundgang durch ihre Heimatstadt, wo sie ihre Kindheit verlebt hat: mit Eltern und Geschwistern in einer 90 Quadratmeter großen Wohnung in einem Neubaublock vom Typ P 2. Das sei »der mit der Durchreiche zwischen Küche und Wohnzimmer«, merkt sie für Kenner an. Heute sieht man hier: nichts; jedenfalls kein Wohnquartier mehr. Bäume, Wiese, eine geschlossene Kaufhalle, deren Vorplatz von Gebüsch überwuchert ist. Der Wohnkomplex (WK) IX, in dem Baumeister aufwuchs, ist weg, so wie weite Teile der Neustadt von Hoyerswerda. Auch ein zweites Haus ihrer Kindheit sei abgerissen, sagt sie. Wollte man die Geschichte der Stadt in der sächsischen Lausitz auf eine knappe Formel bringen, könnte diese lauten: einmal Großstadt - und zurück.
Als Baumeister im Jahr 1968 als Fünfjährige mit ihren Eltern nach Hoyerswerda kam, platzte der Ort aus allen Nähten. Noch 1954 hatten nur 7755 Menschen in der Ackerbürgerstadt gelebt; nun entstand hier die Wohnstadt für das Kombinat Schwarze Pumpe mit Zehntausenden Wohnungen. Eine Herkulesaufgabe, die indes nach modernsten Prinzipien des internationalen Städtebaus angegangen wurde. Im Heidesand, erzählt Baumeister zu Beginn ihres Rundgangs im ehemaligen »Nahversorgungszentrum« des WK I zwischen »Kathrin´s Eiscafé« und der Physiotherapie »Körper & Seele«, entstand eine »Stadt der Moderne«, ähnlich der brasilianischen Planstadt Brasilia. »Das war keine Erfindung der DDR«, betont die Architektin und fügt stolz an: »Wir waren Avantgarde.«
35 Jahre lang wuchs die Stadt in atemberaubendem Tempo. Seit 30 Jahren schrumpft sie in ebenso rasanter Geschwindigkeit. Die »Schwarze Pumpe« überlebte das Wirken der Treuhand nur in kläglichen Resten; die Stadt »verlor damit ihre Funktion«, sagt Baumeister. 68 000 Menschen hatten 1990 in Hoyerswerda gelebt, 22 000 zogen allein in den Jahren bis 1999 weg. Heute ist man trotz einiger Eingemeindungen bei 33 000 gelandet - und einem Altersdurchschnitt von 54 Jahren. In der Neustadt wurden Tausende Wohnungen abgerissen. Die Geschichte Hoyerswerdas sei »die Geschichte des gesamten Ostens unter dem Brennglas«, sagt Baumeister und fügt eine bittere Erkenntnis an: »Die Menschen hier haben Hoyerswerda in ihren jungen Jahren aufgebaut. Am Ende ihres Arbeitslebens haben viele nun den Eindruck: Das war alles wertlos.« Wenn eine Stadt auf diese Weise verschwinde, sagt sie, dann sorge das vor allem für eines: Schmerz.
Derlei Sätze lassen ahnen, unter welch schwierigen Bedingungen in Hoyerswerda kommunale Politik gemacht werden muss: in einer Stadt, in der es gefühlt nicht mehr aufwärts, sondern nur noch abwärts zu gehen scheint; der viele ihrer jungen, energiegeladenen Bewohner abhanden gekommen sind; die wegen der stark gesunkenen Einwohnerzahl mit deutlich weniger Geld auskommen und gleichzeitig Straßen oder Abwasserkanäle bewirtschaften muss, die für heutige Zwecke völlig überdimensioniert scheinen. Dennoch ist es ein Geschäft, in das Baumeister einsteigen will. Sie stellt sich am Sonntag zur Wahl eines neuen Oberbürgermeisters. Ihre Stadtrundgänge sind gewissermaßen eine mobile Art des Wahlkampfs. Und weil nicht nur die Grünen und die Wählervereinigung »Aktives Hoyerswerda« ihre Kandidatur unterstützen, sondern auch die Linkspartei, zählt zu ihren Gästen an diesem Tag neben Einheimischen, zwei Urlaubern aus Schwaben und einem in die Schweiz ausgewanderten jungen Mann aus Hoyerswerda auch Katja Kipping, Bundeschefin der Partei.
Was treibt eine Frau wie Baumeister in die Kommunalpolitik? Eine Unternehmerin, die als freie Architektin etabliert ist; die Veranstaltungen zur Zukunft der Lausitz ebenso organisiert wie Kunstprojekte; die zudem für das Citymanagement der Altstadt zuständig ist? Die Mittfünfzigerin nimmt einen Zug aus der Zigarette und sagt knapp: »Frust.« Frust darüber, dass im Rathaus nicht genug getan werde, um den Schmerz über das Schrumpfen in positive Energie umzuwandeln; um die Chancen des Strukturwandels zu ergreifen und diesen so zu gestalten, dass Bürger ihn als Gewinn empfinden.
Was sie damit meint, erläutert Baumeister vor einem Kieferndickicht unweit der von Gebüsch umwucherten Kaufhalle. Auch hier standen einst Wohnblocks. Als klar war, dass sie mangels Bewohnern abgerissen würden, entwarfen Studenten der TU Dresden Pläne für die Neugestaltung der Flächen. Auf einer am Computer erstellten Visualisierung ist eine weitläufige Parklandschaft zu sehen; mit ausladenden Bäumen, zwischen denen Spaziergänger Hunde ausführen. Die Realität ist trister: planlos angepflanztes, billiges Grün, das an Wildnis erinnert. »Man hätte hier eine Landschaft entwickeln können, die Mehrwert für die Menschen hat«, sagt die Architektin. Das habe man verpasst - »weil wir keine funktionierende Stadtplanung haben«.
Beleg dafür sei auch ein zweites Beispiel, das hinter den Kiefern zu sehen ist: ein Hochhaus, das saniert, aber einsam und verlassen in der Heide steht; ein letzter Überrest des einstigen WK IX. Eigentlich, sagt Baumeister, hätte man eine Stadt, der alle Prognosen eine derart dramatische Schrumpfung voraussagten, vom Rand nach innen zurückbauen müssen - um Wege zu verkürzen, Infrastruktur zu reduzieren, ein kompaktes Siedlungsgebiet zu erhalten. Im Rathaus von Hoyerswerda, an dessen Spitze von 1994 bis 2006 mit Horst-Dieter Brähmig der einst erste Oberbürgermeister der PDS stand, habe man aber zu lange darauf gesetzt, die vorhandene Bebauung aufzulockern und nur hier und da Wohnblöcke zu entfernen. Man habe sich »selbst Ende der 1990er Jahre noch verhalten, als wären wir im Wachstum«, sagt Baumeister. Statt Rückbau von außen nach innen habe die Devise nur »Entdichtung« gelautet - in der Hoffnung, dass es schon nicht so schlimm kommen werde. Ein Trugschluss. »Die Stadt hat versagt«, sagt die Architektin. Das erst 2003 sanierte Hochhaus, das nun allein auf weiter Flur steht, ist markantes Sinnbild dafür.
Dorit Baumeister war beizeiten klar, wohin die Reise für Hoyerswerda gehen würde. Sie plädierte indes nicht nur dafür, den Abriss klüger anzugehen; sie warb darüber hinaus auch dafür, offensiv über das Unumgängliche zu sprechen und es beispielhaft für andere Städte zu gestalten. Strukturbrüche, wie sie die Stadt in der Lausitz ereilen, vollziehen sich in Zeiten industriellen Wandels auch in anderen Kommunen in Europa - die von gelungenen Beispielen für deren Bewältigung lernen könnten. Auch beim Schrumpfen, sagt die Architektin, könne die einstige Modellstadt Hoyerswerda »wieder Avantgarde« sein. Was freilich voraussetzt, dass man den Kopf nicht in den Sand steckt, sondern die Wirklichkeit zur Kenntnis nimmt - und den Willen aufbringt, sie zu gestalten.
Ideen dafür haben Baumeister und ihre Mitstreiter entwickelt, zum Beispiel 2003 im Kunstprojekt »Superumbau«. Schon der Titel untermauerte den Anspruch, dem Umbruch eine positive Wendung zu geben - und den Einwohnern das Gefühl, dass sie dabei auch etwas gewinnen könnten. »Wir können das Problem der Schrumpfung nicht lösen«, sagt sie, »aber wir können dafür sorgen, dass das ganze Land zuschaut« - und feststellt, dass derlei Prozesse kreative Energie freisetzen. In den folgenden Jahren sorgte Baumeister gemeinsam mit Gleichgesinnten dafür, dass ein Abrisshaus bunt bemalt wurde; sie organisierte ein Tanzfest, bei dem Inszenierungen mit Einwohnern an ungewöhnlichen Orten entstanden; sie kuratierte Ausstellungen und Projekte, in denen über Heimatgefühle in einer schrumpfenden Stadt und, unter dem Titel »Die dritte Stadt«, über Perspektiven für die Zeit nach dem Rückbau nachgedacht wurde: »Wir wollen ja nicht wieder Ackerbürgerstädtchen werden!«
Die Kulturprojekte offenbarten ein zuvor nicht vermutetes Maß an Energie und Kreativität in der Bürgerschaft - die indes wegen einer »ängstlichen Haltung« in der Verwaltung nicht zum Tragen gekommen sei. Seit 14 Jahren führt CDU-Mann Stefan Skora das Rathaus; zuletzt seien von ihm kaum noch Impulse gekommen, heißt es in Baumeisters Umfeld. Um die Bürgerbeteiligung bei der Diskussion von Zukunftsfragen sei es in der Stadt nicht gut bestellt; in der Debatte um den Strukturwandel in der Lausitz nach Ende der Braunkohle sei die Stadt kaum präsent. Dabei seien dieser Wandel und die damit verbundenen Milliarden vom Bund »die Chance für unsere Region«, sagt Baumeister. Es besteht die Hoffnung, Institute und Firmen anzusiedeln, die so spannend seien, dass sie junge Menschen zum Umzug bewegen. Baumeister ist überzeugt, dass die Menschen in der Region auch diesen Umbruch bewältigen: »Wir kennen hier ja nur Strukturwandel.« Das Rathaus und sein Chef müssten dabei indes vorangehen, Impulse geben, zu Beteiligung ermutigen. Eine »ängstliche Haltung« sei nicht das, was gebraucht werde.
Ob Baumeister mit diesem Anspruch auch die Wähler überzeugt, bleibt abzuwarten. Kipping würde sich das wünschen: Die Kandidatin habe ein überzeugendes Programm und bringe das »authentisch rüber«; es sei »gut, dass sich verschiedene fortschrittliche Kräfte auf sie verständigt haben«, sagt die Parteichefin. Dass die Linke in einer Stadt, in der sie einst als PDS aus eigener Stärke den Rathauschef stellte und ein Direktmandat für den Landtag errang, heute eine Parteilose unterstützt, sehe sie nicht als Problem; wichtig sei, dass soziale Themen im Rathaus Beachtung fänden - und dass es bei der OB-Wahl nicht zu einer Konstellation wie 2019 in Görlitz komme, mit einem Duell zwischen einem AfD- und einem CDU-Politiker. Einer überparteilich unterstützten Kandidatin der Grünen fehlten dort damals in Runde eins entscheidende Stimmen. Derweil trat die Linke mit einer eigenen Bewerberin an, die aber nur auf 5,5 Prozent kam.
Baumeister darf auf breitere Unterstützung hoffen. Die drei Gruppierungen, die ihre Kandidatur unterstützen, kamen bei der Stadtratswahl im Mai 2019 zusammen auf knapp 30 Prozent. Als chancenreich gilt mit Marco Gbureck zudem der Kandidat der AfD, die im Rat mit 26,4 Prozent stärkste Kraft ist; außerdem Torsten Roban-Zeh, der SPD-Mitglied ist, das auf seinen Plakaten aber nicht erkennen lässt und auf seine Bekanntheit als örtlicher Chef des Sozialverbands AWO setzt. Die CDU erhielt bei der Stadtratswahl zwar 20,6 Prozent und gewann die OB-Wahlen 2006 und 2013; ihre Kandidatin Claudia Florian hat aber selbst die eigene Basis nur in Teilen hinter sich. Fünfter Bewerber ist Dirk Nasdala (Freie Wähler). Dass schon am Sonntag ein Kandidat die absolute Mehrheit erringt, ist wenig wahrscheinlich. Der zweite Wahlgang fände am 20. September statt.
Am Ende ihres Stadtrundgangs steht Baumeister auf einem modernen Hochhaus, dem sogenannten »Tower« im Herzen der Neustadt von Hoyerswerda. Es ist ein durchaus symbolträchtiger Ort. Das Haus ist das, was ein befreundeter Architekt von einem verwinkelten Plattenbau übrig ließ. Und es zeigt sinnfällig, worin Schrumpfung auch münden kann: in moderner Architektur - und in einer grandiosen Aussicht.
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