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- Gewalterfahrungen von Männern
Es muss nicht das Nudelholz sein
Gewalterfahrungen von Männern sind ein Tabuthema - eine Beratungsstelle und Jenaer Wissenschaftler wollen dem abhelfen
Fünf Beispiele. Fünf, die nur die Spitze eines Eisbergs sind. Fünf, in denen es nicht nur um Schläge und Tritte und Würgen und eine Thunfischdose geht. Fünf, in denen immer wieder auch psychische Gewalt geschildert wird. Gegen Männer. Aber auch gegen Kinder. Die mutmaßlichen Täter sind: Frauen.
Die Beispiele sind alle als anonymisierte Interviews verfasst worden, die für ein Thüringer Forschungsprojekt genutzt werden sollen. In einem dieser Interviews - eines 52-Jährigen - heißt es: »Eine Grenzüberschreitung war zum Beispiel auch, dass sie wirklich in der Öffentlichkeit zum Beispiel das Handy nach mir geworfen hat, sie hat mich auch getroffen damit. Oder auch, als ich dann schon am Boden lag, auf mich noch eingetreten hat.« Und ein paar Sätze später: »Ich habe es aber ausgehalten, weil ich keine Lösung hatte, aus dieser Situation rauszukommen.«
Vielleicht noch schockierender als die Gewalt, über die die fünf Männer in den Interviews berichten, ist die Hilfslosigkeit, die aus ihren Aussagen spricht. Immer und immer wieder. Hilflosigkeit, die nicht nur daher kommt, dass es zwar viele Unterstützungsangebote für Frauen in Deutschland gibt, die Opfer häuslicher Gewalt werden, aber nur sehr wenige vergleichbare Angebote für Männer. Die Hilflosigkeit hat viel damit zu tun, dass Gewalt von Frauen gegen Männer noch immer ein großes Tabuthema ist.
Zwei Männer und eine Frau sind in Thüringen Ansprechpartner für Männer, die Opfer solcher Gewalttaten werden. Sie sitzen in einem schmucklosen, grauen Bau im Westen Jenas. An der Einfahrt zum Grundstück weist ein kleines Schild auf das Projekt »A4« hin, das nichts mit der nahen, gleichnamigen Autobahn zu tun hat, sondern denen helfen will, die zu Hause »von Gewalt betroffen sind«, wie das in der Fachsprache heißt. Menschen als »Opfer« von derlei Straftaten zu beschreiben, ist zwar einerseits sehr zutreffend. Andererseits ist es in den Kreisen von Sozialarbeiten, Pädagogen, Therapeuten und ähnlichen Berufsgruppen seit Jahren verpönt, weil die Menschen damit nach der Tat - noch einmal - entmachtet und zum Opfer gemacht werden.
Die fünf Interviews sind hier entstanden. Das Forschungsprojekt, in das sie einfließen, führt die Beratungsstelle gemeinsam mit der Fachhochschule Jena durch. Diese Interviews bilden aber nur die Spitze eines Eisberges ab, weil in den vergangenen Jahren weit mehr als diese fünf Männer bei A4 Hilfe gesucht haben. Mehr als 40 waren es nach Angabe der A4-Beraterin Constance Kühn allein im vergangenen Jahr; dieses Jahr seien es schon etwa 30 gewesen. Trotz oder vielleicht wegen der Coronakrise. Das ist nicht ganz eindeutig. Gleichzeitig ist aber jedem der Berater klar, dass sich nur ein sehr, sehr kleiner Teil der Männer, die Opfer häuslicher Gewalt werden, überhaupt an diese Beratungsstelle wendet, die thüringenweit arbeitet; von Nordhausen bis Sonneberg, von Bad Salzungen bis Altenburg. »Das Dunkelfeld ist riesig«, sagt Thüringens Gleichstellungsbeauftragte Gabi Ohler. Kühn sagt: »Wir arbeiten mit einer Größe, die wir nicht kennen.«
Dafür, dass sich Männer nur so selten trauen, über ihre Gewalterfahrungen zu sprechen, machen Ohler, Kühn und auch der A4-Berater Hagen Bottek vor allem das noch immer dominierende Männerbild in der Gesellschaft verantwortlich - wie alle anderen auch, die auf diesem Feld arbeiten. Männern, sagt Bottek, werde ein Selbstbild anerzogen, nach dem sie aktiv sind; und Gewalt für sie durchaus eine Handlungsoption sei. Es seien nicht zufällig in der Regel Männer, die zum Militär gingen oder die in Kneipenschlägereien und andere Formen der Straßengewalt verwickelt würden. »Es gibt ein öffentliches Bild, nach dem es für Männer durchaus Sinn machen kann, Gewalt anzuwenden«, sagt Bottek.
Die Kehrseite wird oft vergessen; und das selbst in Zeiten, in denen das Rollenverständnis von Männern - und auch Frauen - längst in Bewegung gekommen ist. Nicht nur, dass inzwischen auch Frauen im Militär dienen und dort ebenso selbstverständlich zu töten lernen wie Männer. Männer können - zumindest in Deutschland - ebenso Elternzeit nehmen wie Frauen, ohne dabei von der Mehrheitsgesellschaft komisch angeschaut zu werden. Auch wenn es noch große Unterschiede gibt, eine lange Elternzeit von Müttern quasi erwartet wird, Männer dagegen öfter kurze Elternzeiten von etwas über zwei Monaten beanspruchen. Aber es ruft hierzulande eben auch immer weniger Verwunderung hervor und wird allmählich akzeptiert: dass Männer mit Männern gemeinsam eine Familie gründen.
Auch dazu sind die Statistiken und Forschungen eindeutig - es sind im gesamtgesellschaftlichen Kontext in der Regel Männer, die Opfer von Gewalt werden. Das wird oft ausgeblendet. Weil die Opferrolle nicht Teil des dominierenden Männlichkeitsbildes ist. Zwar ist es bei häuslicher Gewalt tatsächlich anders. Die Mehrzahl der - zumindest polizeilich registrierten - Opfer häuslicher Gewalt sind Frauen. Doch bedenkt man, dass es noch viel mehr Formen von Gewalt in den modernen westlichen Gesellschaften gibt, dann wird offenbar, dass bei Männern die Wahrscheinlichkeit viel größer ist, dass sie »von Gewalt betroffen«, dass sie Gewaltopfer werden. Nicht nur, weil Soldaten auf der anderen Seite zurückschießen oder weil Kneipenschlägereien meist zwischen Männern ausgetragen werden, sondern weil Männer generell schneller bereit sind, Konflikte untereinander gewaltsam auszutragen. Betrachtet man die von Polizisten im vergangenen Jahr aufgenommenen Gewaltstraftaten, wurden Männer häufiger als Frauen als Opfer eingestuft. So heißt es in der Polizeistatistik des Bundeskriminalamtes, dass 2019 etwa 611 000 Menschen in Deutschland Opfer von Körperverletzungsdelikten wurden; davon waren knapp 63 Prozent Männern. Bei Raubdelikten oder Mord- und Totschlagsstraftaten lag der Anteil der männlichen Opfer bei mehr als 70 Prozent.
Ohler und den Beratern bei A4 ist deshalb wichtig, aus dem Rollenverständnis zu Gewalterfahrungen grundsätzlich auszubrechen. »Die Welt ist verdammt bunt und vielfältig«, sagt Kühn. Ohler sagt, sie wolle in den nächsten Jahren Gewalt im häuslichen Umfeld zu einem ihrer Schwerpunktthemen machen, egal von dem sie ausgehe und wer Opfer sei. Männer, Frauen, Kinder. Denn egal, wen es treffe, sagt Ohler, es gebe »zu viel Gewalt«.
Dieser Ansatz scheint durchaus vielversprechend zu sein, denn nur so kann es überhaupt gelingen, über häusliche Gewalt gegen Männern zu reden, ohne dadurch häusliche Gewalt gegen Frauen zu relativieren. Denn das liegt Ohler, Kühn oder Bottek fern. »Frauen haben uns den Weg geebnet«, sagt Kühn. Dass in den vergangenen 30 Jahren häusliche Gewalt gegen sie immer wieder thematisiert worden sei, führe endlich zu mehr Sensibilität. Aber es führe auch - endlich - dazu, dass häusliche Gewalt gegen Männer wenigstens vorsichtig thematisiert werden könne.
In der Art der Anwendung von Gewalt gibt es nach den Beobachtungen von Kühn und Bottek durchaus Unterschiede zwischen Männern und Frauen. Selbstverständlich gebe es da immer Gegenbeispiele, sagen sie. Doch tendenziell setzten Frauen häufiger als Männer auch psychische Gewalt ein. Mittel seien hier etwa, Männer permanent zu beleidigen, ihnen das Selbstwertgefühl zu rauben, sie unberechtigterweise des Missbrauchs an sich oder den Kindern zu bezichtigen. Und wenn es zu physischer Gewalt komme, nutzten Frauen tendenziell häufiger Gegenstände, um ihrem Gegenüber Schmerzen zuzufügen.
Das muss nicht immer das berüchtigte Nudelholz sein. Nicht mal das - vielleicht, vielleicht auch nicht im Affekt - geworfene Handy. In einem der fünf Interviews, gegeben von einem 26-Jährigen, heißt es: »Später gab es eine Situation, wo sie mir eine Thunfischdose an den Kopf geworfen hat.«
Frauen gleichen so den oft biologischen Nachteil aus, dass sie in der Regel weniger Kraft haben als Männer, weil sie weniger Muskelmasse und weniger sonstiges Gewicht hinter einen Schlag bringen können. Allerdings sind es - entgegen mancher Vorurteile - nicht nur schmächtige Männer, die Opfer von Frauen werden. Einmal, erzählt Kühn, habe sie einen Klienten gehabt, der 1,80 Meter groß, sportlich, Handballspieler gewesen sei. Seine Partnerin habe ihn aber immer in solchen Situationen körperlich misshandelt, in denen er sich nicht habe wehren können: auf der Toilette, im Schlaf. Ganz abgesehen von der Frage, ob er sich überhaupt hätte wehren wollen. Denn auch das erleben Kühn und Bottek immer wieder: Männer, die sich trotz gewalttätiger Frauen nicht von ihnen trennen wollen oder können. So, wie es viele Frauen mit gewalttätigen Partnern häufig nicht schaffen, sich von ihnen loszureißen. Oft wegen der gemeinsamen Kinder.
Das Tabuthema, das die Berater des Projekts A4 Stück für Stück aus dem Dunkel reißen wollen, ist also so groß, dass es noch Jahre, vielleicht auch Jahrzehnte dauern wird, bis es für Männer selbstverständlich wird, nicht unverwundbar zu sein, auch nicht in einer Beziehung - und dann auch noch Hilfe zu suchen, wenn sie sie brauchen.
So groß ist dieses Tabu nach Einschätzung von Bottek, dass es - jedenfalls wenn es um Gewalt geht - nur noch eine Sache gibt, die mit einem noch größeren gesellschaftlichen Tabu belegt ist: Frauen, die zu Hause nicht nur ihre Männer, sondern auch ihre Kinder schlagen oder psychisch misshandeln. »Da wird ja die Heiligkeit der Mutter angegriffen«, sagt Bottek. Doch in den fünf Interviews, an der Spitze der Spitze des Eisberges, gibt es Hinweise auch darauf, dass selbst das gar nicht so selten ist.
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