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Sich endlich zu Hause fühlen
Die Bewohner der Kölner Keupstraße kämpfen um ein Denkmal zum NSU-Attentat von 2004 und damit für die eigene Anerkennung
Wenn man mit Meral Şahin spricht, bekommt man den Eindruck, ihr persönliches Glück ist mit dem Schicksal dieser Straße verbunden. Ihre Vergangenheit, die Zukunft ihrer Familie, ihre Trauer, ihr Kampfgeist - all das liegt in dem einen Kilometer des Kölner Stadtteils Mülheim, der Keupstraße heißt. Umgekehrt prägt Şahin die Keupstraße und wofür sie heute steht. Die 49 Jahre alte Unternehmerin ist Inhaberin eines Ladens für Dekoartikel, Vorsitzende der Interessengemeinschaft Keupstraße und so etwas wie die Botschafterin der Mülheimer Einkaufsmeile.
Ihr Geschäft ist eines der letzten in der Kette von Juwelieren, Brautmodeläden und Wettbüros. An diesem Vormittag ist es vergleichsweise leer auf der Straße. Autos warten geduldig hinter einem Lieferwagen, aus den geöffneten Küchentüren der Restaurants duftet es bereits. »Corona hat etwas Ruhe in die Straße gebracht«, sagt Meral Şahin, während sie kübelweise Rosen aus ihrem Auto in den Laden trägt. Für sie scheint das nicht zu gelten. Die Frau in dem geblümten Kleid und dem hellrosa Kopftuch scheint immerzu in Bewegung zu sein. Und bei genauerem Hinhören wird deutlich, dass das auch für die Straße nicht gilt. Dass Ruhe, falls überhaupt, nur oberflächlich eingekehrt ist.
Am 9. Juni 2004 wurde ein Friseursalon in der Keupstraße zum Anschlagsziel der rechtsextremen NSU-Terrorzelle. Eine Nagelbombe verletzte 22 Menschen, vier davon schwer. Şahin war in ihrem Laden, als die Bombe explodierte. »Ich weiß immer noch nicht, wie ich darüber sprechen soll«, sagt sie, während sie hinter der Theke mit geübten Handgriffen Rosen entdornt. »Wir wissen ja auch bis heute nicht, was wirklich passiert ist. Wie tief die Wurzeln dieser Anschlagsserie reichen.«
Mit dem Anschlag wurde der Wunsch der Anwohner*innen der Keupstraße nach Verständigung größer, das politische Engagement nahm zu. Nachdem bereits im Mai 2013 der NSU-Prozess in München begonnen hatte, gründete sich Anfang 2015 die Initiative »Keupstraße ist überall«, um Zeug*innen vor Ort zu begleiten und Demonstrationen vor dem Gericht zu organisieren. Das Schauspielhaus Köln, das gleich um die Ecke auf einem ehemaligen Industriegelände untergebracht ist, führte ein Theaterstück zu den Anschlägen auf - es war Şahin, die mit den Besucher*innen vor dem Stück über die Keupstraße ging, Plätzchen in der Konditorei Özdağ probierte und die Moschee besuchte.
Mehr als sechzehn Jahre ist es her, und doch prägt der Anschlag die Einkaufsstraße in Mülheim bis heute: Er ist in den Köpfen und in den Geschichten, die aus erster oder zweiter Hand erzählt werden. Jeder kennt irgendjemanden, der dabei war, der den Knall hörte. Und auch nach über sechzehn Jahren ist dieser Tag im Februar 2004 ein Thema der Stadtpolitik. Wenn Nordrhein-Westfalen am kommenden Wochenende seine kommunalen Vertretungen wählt, wird für Şahin und andere auch das vor allem mit der Keupstraße verbunden sein.
»Keinen Millimeter nach rechts!«, prangt auf Sichthöhe das Plakat der amtierenden Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker. Nach fünf Jahren im Amt steht sie erneut zur Wahl. Doch vertrauen ihr die Bewohner*innen der Keupstraße? Vertraut ihr Meral Şahin? »Ich möchte so gern«, sagt die Neunundvierzigjährige. Doch dafür fehlt ihr etwas - fehlt vielen etwas. Ein Ort zuerst, der Opfer des rechten Terrors zu gedenken. Ein Ort, wo auch das Vorgehen der Ermittlungsbehörden in Erinnerung gerufen wird, die zuerst die Betroffenen und ihre Nachbar*innen selbst verdächtigten, etwas mit dem Verbrechen zu tun zu haben.
Nach der Selbstenttarnung des NSU 2011 begannen Angehörige und Unterstützer*innen, sich für ein Mahnmal starkzumachen. Vier Jahre dauerte es, bis Ende des Jahres 2015 schließlich der Rat der Stadt Köln entschied, in einem Werkstattverfahren, einer Art geregeltem Wettbewerb, einen Denkmalentwurf auszuwählen. Einige Monate später einigte man sich auf einen Vorschlag des Berliner Künstlers Ulf Aminde: Eine sechs mal 24 Meter große Betonplatte, der Grundriss des Friseursalons, ergänzt durch virtuelle Wände.
Doch im letzten Schritt des Werkstattverfahrens habe sich der Investor, dem das Grundstück gehörte, gegen den Bau gestellt, erinnert sich Şahin. Bis heute gibt es kein Mahnmal auf der Keupstraße, nichts, das an den Anschlag von 2004 erinnert. »Und das wird es auch noch sehr lange nicht geben«, sagt Şahin. Die resignierten Worte wollen nicht so recht zu dem energischen Auftreten dieser Frau passen. Die Unternehmerin sieht die Stadt in der Verantwortung, das Grundstück zu kaufen - bis zuletzt hatte diese aber gezögert.
Stattdessen schlug Oberbürgermeisterin Reker vor, auf einen anderen Standort für den Bau des Mahnmals auszuweichen. Noch im Juni 2019, am 15. Jahrestag des Anschlags, teilte Reker in einer Pressemitteilung mit: »Dieses Grundstück gehört nicht der Stadt Köln und wir können dem Eigentümer nicht vorgeben, wann er sein Grundstück bebaut und das Mahnmal genau dort seinen Platz findet.« Für Meral Şahin kommt ein anderer Ort jedoch nicht in Frage. Von Angesicht zu Angesicht solle man sich stehen, sagt sie. »Auf der einen Seite die deutsche Schanzenstraße und auf der anderen Seite die türkische Keupstraße.« Beide Straßen, dicht beieinander gelegen, scheinen seit dem Anschlag Welten zu trennen. Oder nicht erst seit dem Anschlag?
Seit Oktober 2019 steht das für das Mahnmal begehrte Grundstück zum Verkauf. Um den Druck auf die Stadt zu erhöhen, gründete sich die Initiative »Herkesin Meydanı - Platz für alle«. In einem offenen Brief wandte diese sich an Henriette Reker und forderte die Stadt auf, von ihrem Vorkaufsrecht Gebrauch zu machen. Im Juni, zum 16. Jahrestag des Anschlags, dann die Antwort der Oberbürgermeisterin: Man wolle das Grundstück kaufen. Auf Anfrage gibt sich die Stadt jedoch verhaltener. Man habe sich noch nicht über einen Ankauf des Grundstücks abgestimmt, heißt es in der Antwort des Sprechers für Bau und Planung. Die Stadt prüfe dies aber wohlwollend.
Norbert Fuchs, Bezirksbürgermeister von Köln Mülheim, wird da deutlicher: »Es gibt keine Verkaufsgespräche mit der Stadt«, sagt er. Stattdessen biete ein Investor, dieser sei gerade mit dem Baudezernat der Stadt im Gespräch. »Es ist komplizierter, als die Initiative sich das vorstellt«, sagt Fuchs. Das Grundstück sei sehr teuer, und es gebe Vorschriften, wie es zu bebauen sei. Ein Vorkaufsrecht seitens der Stadt gebe es in diesem Fall überhaupt nicht. Dazu brauche es einen Beschluss des Stadtrats, und selbst der hätte womöglich keinen Bestand, falls der Eigentümer dagegen vorginge. Der politische Wille, das Mahnmal zu bauen, sei da, sagt Fuchs. Von allen Seiten. Auch der bietende Investor hat dem Bau zugestimmt. Nur ob es dann an der von der Initiative gewünschten Stelle stehe - das bezweifelt der Bezirksbürgermeister.
Für Meral Şahin spricht aus dem Verhalten der Stadt Köln fehlende Wertschätzung. Ihr sei nicht begreiflich, wie Hunderte Millionen Euro in die Renovierung des Schauspielhauses gesteckt werden könnten, aber kein Geld für dieses Grundstück da sei. »Uns fehlt die Lobby, die unsere Interessen vertritt«, sagt die Unternehmerin.
Die Vorwürfe der Betroffenen und Anwohner*innen gegenüber der Stadt sind nun mit Blick auf den kommenden Sonntag zum Wahlkampfthema geworden. CDU und Grüne unterstützen die parteilose Reker. Doch insbesondere Andreas Kossiski, der Oberbürgermeisterkandidat der SPD, der zuletzt stärksten Partei im Stadtrat, prangert das Zögern an, drängt auf die Umsetzung der Beschlüsse eines Untersuchungsausschusses im Landtag und die Errichtung des Mahnmals, das man den Bewohner*innen schuldig sei. Im Juni besuchte er die Keupstraße, sprach mit Vertreter*innen der Interessengemeinschaft, unter anderen auch Meral Şahin. Das Video, das bei dieser Gelegenheit entstand, wird gleich als erster Beitrag auf seiner Website angezeigt. »Die Menschen in dieser Straße, die Oper, die Angehörigen, haben es verdient, dass wir ihnen endlich Respekt entgegen bringen«, sagt Kossiski vor der Kamera.
Der SPD-Politiker scheint auf mehr Vertrauen in der Keupstraße zu stoßen als Henriette Reker. Auf einem Foto, das die Interessengemeinschaft Keupstraße auf Facebook postet, laufen Şahin und Kossiski nebeneinander her, sie gestikuliert, er hört konzentriert zu. »Danke für den intensiven Austausch und die Zeit, die Sie sich für uns genommen haben«, steht über dem Foto. Und »viel Glück bei der OB-Wahl.« Auch Henriette Reker besuchte gemeinsam mit den Grünen die Keupstraße im August - hierzu gibt es allerdings keinen Facebook-Eintrag.
Zwischen Wahlkampf und Verkaufsgesprächen, den Bekenntnissen politischen Willens und real existierenden Bauvorschriften droht das Eigentliche fast verloren zu gehen: das Gedenken. Und so wird für Meral Şahin der Streit um das Mahnmal Stück für Stück zur Mahnung selbst. Bei der letzten Gedenkveranstaltung im Juni, an der Hunderte Menschen teilnahmen, malten Demonstrierende symbolisch einige Linien an die Ecke der Keupstraße - symbolische Darstellung der Lücke, die sie hier sehen. Die »Lücke« ist auch zum Titel einer Theaterinszenierung am Schauspiel Köln geworden, die sich dem Thema widmet. Der Leerstelle, die das fehlende Mahnmal bei der Aufarbeitung des Vergangenen ist. Der Leerstellen und Missverständnisse aber auch, die zwischen der multikulturellen Gesellschaft in Gegenden wie der Keupstraße und der deutschen Mehrheitsgesellschaft klaffen. An dem Tag im Juni spricht auch die Unternehmerin Şahin, fordert zum gemeinsamen Kampf gegen Rassismus auf.
Das Attentat auf zwei Shisha-Bars in Hanau, bei dem der Täter neun Menschen tötete, bevor er seine Mutter und sich selbst erschoss, liegt da erst wenige Monate zurück. Nicht nur bei Meral Şahin hat dieser 19. Februar die eigenen Erinnerungen wieder aufleben lassen.
»Natürlich denkt man sofort an den Anschlag von 2004«, sagt sie. »Es nimmt einem die Luft.« Die jungen Menschen in der Bar - auch ihr Sohn hätte darunter sein können. Das Lächeln von Meral Şahin ist am breitesten, wenn sie etwas Trauriges sagt. »Das geht noch weiter« sagt sie mit sicherer Stimme und meint damit den rechten Terror. »Die machen weiter.« Dass sie sich für die Keupstraße und das Mahnmal engagiert, ist ihre Art zu bewältigen, was passiert ist. »Ich hätte sonst keine Ruhe«, sagt sie. »Es ist der Drang, sich zu Hause zu fühlen.«
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