Die Unglaublichkeit des Anschlags

Im Prozess um das Attentat von Halle kamen die Besucher des Döner-Imbisses zu Wort

  • Max Zeising, Magdeburg
  • Lesedauer: 4 Min.

Sie sei gerade vom Arzt gekommen, als sie einem ihr unbekannten Mann begegnete. »Plötzlich kam er zwischen den parkenden Autos durch, mit einem gewährähnlichen Gegenstand«, sagte die 78-jährige Hallenserin am Mittwoch im Landgericht Magdeburg. Die Rentnerin war im Prozess gegen Stephan B. eine von mehreren Zeugen, die sich am 9. Oktober vergangenen Jahres im »Kiez-Döner« auf der Ludwig-Wucherer-Straße in Halle oder in der Nähe befanden. Der Angeklagte tötete an diesem Tag die 40-jährige Jana L. und den 20-jährigen Kevin S..

»Er stand nur drei Meter entfernt«, erinnerte sich die Hallenserin, die im Zeugenstand recht gefasst wirkte und auf Nachfragen von Richterin Ursula Mertens präzise antwortete. Sie habe erst gedacht, der Angeklagte wolle »jemanden erschrecken«. Plötzlich habe sie einen Schmerz am Fuß gespürt. Erst später stellte sich heraus, dass sie von Nägeln eines Sprengsatzes getroffen wurde. Dass es sich hier um einen antisemitischen und rassistischen Anschlag handelte, konnte die Zeugin zuerst gar nicht begreifen. Der Anschlag hätte noch schlimmer ausgehen können, wenn die Tür der Synagoge nicht standgehalten hätte. Denn eigentlich wollte Stephan B. die Synagoge stürmen und dort ein Blutbad anrichten. In der Synagoge versammelte sich an diesem Tag die jüdische Gemeinde, um den höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur zu begehen.

Der Angeklagte folgte dem Geschehen vor Gericht wie fast immer: stoisch, unbeteiligt, apathisch. Er verzog keine Miene, wirkte gelangweilt. Auch als der nächste Zeuge, ein 74-jähriger Naturwissenschaftler, in den Zeugenstand trat. Er konnte die Tat ebenfalls zuerst gar nicht fassen. Der Zeuge berichtete, wie er gerade im Dönerimbiss saß, als er plötzlich einen Knall hörte. »Ich dachte zuerst: Welcher Idiot zündet jetzt einen Polenböller?«, sagte er vor Gericht. Dann der Anblick der zerschossenen Schaufensterscheibe des »Kiez-Döners«. »Ich war als Naturwissenschaftler zunächst völlig fasziniert von dem zersplitterten Glas«, sagte er.

Dass die Situation auch für ihn hätte gefährlich werden können, hatte der Zeuge zu diesem Zeitpunkt offenbar noch gar nicht begriffen. Erst später, als weitere Gäste des Imbisses zur Flucht aufgerufen hätten, sei der 74-Jährige in ein Hinterzimmer geflüchtet und dort aus dem Fenster in den Innenhof gesprungen. »Ich hörte auf dem Weg, wie jemand rief: ›Bitte nicht schießen!‹«, erinnerte er sich. Das muss Kevin S. gewesen sein, der wenige Sekunden später sein Leben verlor. Auch der Zeuge hatte nun »furchtbare Angst, dass der Attentäter hinterherkommen könnte«.

Dann wurde er von der Nebenklage noch befragt, was er sich von dem Prozess erhoffe. Er zögerte kurz, sagte dann aber ganz bestimmt: »Dieses verabscheuungswürdige Verbrechen konnte aus der schlafmützigen Mitte der Gesellschaft heraus geschehen.« Es sei schwer vorstellbar, wie der Angeklagte »ohne Wahrnehmung seiner Umwelt« ein Rassist habe werden können. Als er den Zeugenstand verließ, gab es Applaus. Richterin Mertens wies die Zuschauer darauf hin, dass dies vor Gericht nicht erwünscht sei.

Nach einer kurzen Pause wurde das Video der Body-Cam des Attentäters gezeigt. Die Schüsse auf den »Kiez-Döner« sind klar zu sehen und zu hören. Ebenso Kevin S., der sich kurz vor seinem Tod hinter der Theke versteckte. Da waren sie wieder, die flehenden Schreie des jungen Mannes: »Bitte nicht!« Kevin S., der als Maler auf einer Baustelle in Halle arbeitete, verbrachte im »Kiez-Döner« seine Mittagspause.

Seit Juli steht Stephan B. vor Gericht. Die ersten Verhandlungstage hatten das bisherige Leben des mutmaßlichen Attentäters beleuchtet und gezeigt, dass die These vom »einsamen Wolf«, der allein und ohne Rückhalt einer Gruppe handelt, kaum aufrechtzuerhalten ist. Denn der Angeklagte erfuhr offenbar nicht nur Zuspruch im Internet, auch in seinem direkten Umfeld konnte seine Ideologie offenbar gedeihen. Der Prozess soll noch bis November andauern, dann wird ein Urteil erwartet. Die Imbissbetreiber Ismet und Rifat Tekin sollen auch noch als Zeugen zu Wort kommen, sind aber erst für einen späteren Prozesstermin vorgesehen.

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