Sächsischer Kassensturz
Linksfraktion im Freistaat will Bilanz nach 30 Jahren Einheit
Die Jubelfeiern haben begonnen: Am 4. September gab es im Stadion des Fußball-Zweitligisten Erzgebirge Aue ein Konzert zum 30. Jahrestag der »Wiedergründung Sachsens«. Am 3. Oktober 1990 wurde das Land formal wieder gegründet; der neue Landtag beschloss bei seiner ersten Sitzung am 27. Oktober die Bezeichnung »Freistaat Sachsen«. Die offiziellen Feierlichkeiten zum Gedenken ziehen sich durch den Herbst. Allerdings gehe es dabei offenkundig »mehr um Euphorie als um Ehrlichkeit«, sagt die Linke-Abgeordnete Luise Neuhaus-Wartenberg.
Ihre Fraktion verlangt nun die Vorlage einer nüchternen, aber dafür umfassenden Bilanz der drei Nachwendejahrzehnte, quasi einen Kassensturz von 30 Jahren Sachsen. In einer Großen Anfrage wird die Staatsregierung aufgefordert, für faktisch alle Politikbereiche in ihrer Zuständigkeit die Entwicklung seit 1990 zu belegen: Bildung und Schule, Kommunen, Infrastruktur, Gesundheitswesen, Tourismus. Die Frageliste umfasst 20 Seiten, die der Antworten wird weit länger ausfallen. Für viele Angaben erbittet man eine Aufschlüsselung für die ersten 20 Jahre »in 5-Jahresschritten«, dann jährlich.
Die Minister dürften sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, bekannte Erfolgsmeldungen statistisch zu untersetzen. Sachsen präsentiert sich gern als finanzpolitischer Musterknabe Ostdeutschlands mit niedriger Verschuldung; auch wirtschaftliche Daten sind positiv. Gelegenheit, diese darzulegen, gibt eine offen gehaltene Frage in Abschnitt XI: »Wie hat sich die Wirtschaft des Freistaats Sachsen seit 1990 verändert?« Daneben werden aber auch Angaben abgefragt, welche die 30 Nachwendejahre in weniger rosigem Licht erscheinen lassen dürften. Es geht um die Anzahl der Fortzüge, die Zahl von Menschen in Armut, den Betreuungsschlüssel in Kitas oder Altschulden von Kommunen. Abgefragt wird die Zahl der seit 1990 geschlossenen Schulen, stillgelegter Gleiskilometer, nicht mehr geöffneter Dorfkneipen. Die Entwicklung der Infrastruktur im ländlichen Raum wird auch auf Regierungsseite als problematisch wahrgenommen. Die Fragesteller wollen wissen, welche Konsequenzen man daraus zieht: »Auf welche Weise, mit welcher Zielsetzung, mit welchen Instrumenten und mit welchem zeitlichen Horizont beabsichtigt die Staatsregierung, die ländlichen Räume in den genannten Bereichen besser zu fördern?«
Mehrere Fragekomplexe zielen auch auf Bereiche, die eng mit der Art der Vereinigung und dem dazu ausgehandelten Vertrag verknüpft sind: die DDR-Sonderrenten etwa, für die den Ost-Bundesländern höhere Lasten aufgebürdet wurden; Altschulden; die Regelung von Vermögensfragen nach dem Prinzip »Rückgabe vor Entschädigung«. Die Linke will wissen, wie viele ungeklärte Fälle es diesbezüglich noch gibt oder wie viele vor Gericht anhängig sind.
Gefragt wird auch, wie gebürtige Ostdeutsche in Sachsen auf Führungspositionen in Verwaltung, Gerichten oder Hochschulen präsent sind - und welche Handlungsmöglichkeiten die Regierung sieht, die Quote zu erhöhen. Spitzfindigen Erörterungen, wer als »ostdeutsch« gelten darf, will man dabei aus dem Weg gehen: Gemeint sei jeder, der »in Ostdeutschland (nicht ausschließlich DDR, sondern auch nach 1989 bis heute)« die Schule besucht habe. Für viele dieser Menschen, sagt Neuhaus-Wartenberg, habe der Umbruch 1989 »nicht nur einen Gewinn an Freiheit, sondern auch massive Entwertungs- und soziale Verlusterfahrungen« gebracht. Jetzt gehe es um eine Standortbestimmung 30 Jahre später - und »die Frage, wem der Osten und die Erzählung über ihn gehört«.
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