»Was hast du gesehen, alter Mann?«
Clemens Meyer führt durch die Kinos und Schützengräben von Novi Sad
»Pass auf, was du sagst, Kamerad,
gegen das heilige Ungarn!«
»Unterm Eis eines großen Flusses, der durch eine sehr alte Stadt in der Mitte der Welt fließt, trieb eine junge tote Frau. Verschiedene Stämme siedelten seit jeher an den Ufern des Stroms, und viele hundert Jahre, bevor die junge Frau sich scheinbar sanft im eisigen Wasser bewegte, als wäre noch ein winziger Rest Leben in ihr, im eiskalten Januar 1942, nannten die Einwohner, egal zu welchem Stamm sie gehörten, ihre Stadt nur bei ihrem serbischen Namen Novi Sad. Nur die Deutschen nannten sie Neusatz.«
Clemens Meyer schreibt mit Einfühlungsvermögen von einer Zeit, in der alle Uhren der Menschheit stehen zu bleiben drohten, so groß war die Not und die Infamie des Krieges. Doch er schreibt auch von Hoffnungen und der leisen Menschlichkeit und von den Träumen, die in den kurzen Momenten, die Menschen im Kino verbrachten, in den Bioskopen, wie man sie nannte, aufschienen: Leben in einer anderen Zeit.
Den Text begleiten historische, atmosphärisch gefärbte Bilder aus dem Fundus der Geschichte. Ein neuer, anderer Clemens Meyer, der uns ein bitteres, aber auch wundersames Buch der Hoffnung schenkt.
Clemens Meyer, geboren 1977 in Halle/Saale, lebt in Leipzig.
2006 erschien sein fulminanter Debütroman »Als wir träumten«, es folgten u. a. »Die Nacht, die Lichter. Stories«, der Roman »Im Stein« sowie die Erzählungen »Die stillen Trabanten«. Für sein Werk wurde Clemens Meyer vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Preis der Leipziger Buchmesse und dem Bremer Literaturpreis.
»Was hat denn der Palast mit uns Ungarn
zu tun, die Jugos … die Serben haben ihn
gebaut!«
»Alles, was das heilige Magyar Királyság
erobert, gehört auch
zum heiligen Magyar Királyság!«
»Mir ist jedenfalls schön warm
unter meiner Mütze!«
»Aber wir hatten es doch ausgemacht,
dass wir tauschen!«
»Ja, ja, nur die Ruhe, das kostet Schnaps!«
Und der Mann im Wolfspelz, der nach den Toten fragte und still in sich hineinzählte bei seinen Rundgängen durch die Stadt, sieht, immer noch lachend, den Wechsel der Mützen und Helme, die nicht so recht zu den jeweiligen Uniformen passen, sieht die Streitereien dieser zusammengewürfelten Wachmannschaft (und radelten nicht die ungarischen Soldaten auf der Suche nach Ruhm, ausgesandt vom Reichsverweser Horthy, mit den deutschen Truppen beziehungsweise hinter den Truppen gen Moskau, die berühmte Veloziped-Brigade?), sieht all das wie in einem Stummfilm, die Stimmen der Soldaten auf Texttafeln gebannt. Und er liest die harten und dennoch komischen Worte des Streits auf diesen Texttafeln, sieht die Soldaten die Mützen tauschen und nach den Helmen greifen, scheppernd (stumm!) fällt ein Helm zu Boden, flimmerndes Schwarz-Weiß, er sieht, wie er ein Kino betritt, ein Bioskop, hier in Novi Sad, ein Schalter, ein Kassenhäuschen, in dem eine alte Frau sitzt, ihm ein kleines Pappticket gibt, das ihn an ein Eisenbahn-Billett erinnert, ein langer Gang, den er immer weiter läuft, dem Kinosaal zu, und ungläubig staunend blickt er erstmals in das Licht des Projektors, vor fast zwanzig Jahren.
Er hatte Verwandte in der Stadt, die wollten ihn verkuppeln. Irgendeine Bäckerstochter. »Komm zu uns in die goldene Vojvodina, hier backen die Bäcker bis zum Ende aller Tage, es wird dein Schaden nicht sein!«
Er war siebenundzwanzig Jahre alt, als er zum ersten Mal nach Novi Sad kam, und er war noch nie in einem Kino gewesen. Was lief dort? Er kann sich nicht genau erinnern, Bilder und Stimmen der Vergangenheit, Stummfilme, Tonfilme, das Rattern des Projektors.
Er stand vor dem Bioskop von Novi Sad, trug seinen guten Anzug, den sein Vater vor langer Zeit in einem der großen Herrenateliers von Zagreb gekauft hatte, und der ein bisschen zu knapp saß, wie sollte ihm der noch passen, wenn er eine Bäckerstochter geheiratet hatte? Er zerdrückte einen kleinen Strauß Blumen, den er für die Bäckerstochter gekauft hatte, nervös an seinem Jackett. Er hatte noch eine gute Stunde Zeit, bis er die Unbekannte, von der er nur ein sehr unscharfes Foto erhalten hatte in einem Brief (sie wirkte recht dünn für eine Bäckerstochter, aber das konnte täuschen), im Haus seiner Verwandten treffen würde, und die wohnten gleich um die Ecke, genug Zeit für einen Film. Und er strich die Aufschläge seines Jacketts glatt, betrat das Bioskop, ging zum Ticketschalter, ging durch einen langen Gang, Filmplakate an den Wänden.
Was genau hat er gesehen, damals? Er versucht sich zu erinnern, während er immer noch die Soldaten beobachtet. Chaplin, der dem Führer so ähnlich sieht? Nein. Der Mann mit dem weißen Gesicht? Nein. Der Mann, der an den Zeigern einer Uhr hing, oben an einem riesigen Turm? King Kong? Der junge John Wayne? Nein. Die kamen doch erst später. Johnny und der Affe. Dieser Deutsche? Nein, die hat er Anfang der 30er Jahre gesehen, in einem anderen Bioskop. Aber hier in Novi Sad? Der Fuhrmann des Todes? Der Fuhrmann ist verdammt, die Seelen der Verstorbenen in seiner Kutsche mitzunehmen, Männer, die trinken auf einem Friedhof und lachen über diese Legende, eine unglückliche Frau wartet woanders auf einen der Männer, der Fuhrmann kommt durch den Nebel mit seiner Kutsche, fährt ins Bioskop von Novi Sad … Ja. Vielleicht. Lange her.
Die Filme und Bilder und Spieler schieben sich ineinander, Chaplin, Cowboys, große Dramen, Autos und Kutschen, denn er hat Tage im Bioskop von Novi Sad verbracht. Er hat auf dem harten Klappstuhl aus Holz gesessen, der bei jeder seiner Bewegung knarrte, inmitten einiger anderer knarrender Bioskopbesucher, und als der Film begann, ein alter Mann saß an einer kleinen Orgel neben der Leinwand und spielte seltsame Melodien, die mal zu den stummen Bildern passten und mal nicht, da wusste er, dass er nie wieder etwas ähnlich Überwältigendes sehen würde und spüren würde, die Wirklichkeit verschwand, und die Wirklichkeit erschien. Die Verwandten, die vor der Scheibe des Kino-Cafés standen, in dem er zwischen den Filmen saß, die Bäckerstochter hinter ihnen, ein unscharfer blasser und unglücklicher Strich, die Verwandten, die an die Scheibe des Cafés schlugen. Waren das Schüsse?
»Ihre Papiere, bitte!«
Er sucht das Kino, das Bioskop, auf seinen Gängen durch die Altstadt. Es gab nichts mehr zu beobachten am Magistrat von Novi Sad, Helme und Mützen wurden getauscht, Wachmannschaften abgelöst. Doch er kann das Bioskop nicht finden. Fiel sicher auf, als er wieder und wieder seine Runden drehte in der dunklen kalten Stadt. Er wollte doch eigentlich zum Bahnhof, zur stanica.
An der Synagoge bleibt er stehen. Warum sind hier keine Soldaten zu sehen? Auch keine Uniformierten der Gendarmerie. Die große Kuppel, der kleine seitliche Turm. Von dem angeblich Leuchtzeichen gegeben wurden, zu den Partisanen in der Ebene, zur Festung Petrovaradin, wo die Partisanen in den Katakomben lauerten. Er hat seit Tagen den Gerüchten gelauscht. In der Stadt, vor der Stadt. Notierte sie im Geiste, schrieb sie in sich hinein.
Er tritt näher an das große Gebäude heran. Nimmt sich eine Zigarette aus der flachen Schachtel und zündet sie an. Er braucht fünf Streichhölzer, bis der Tabak brennt.
Es ist vollkommen ruhig in der Straße. Wie kalt es wohl war? Mindestens zwanzig unter Null, eher noch kälter, sonst wäre der Fluss nicht zugefroren. Die Ruhe vor der Synagoge ängstigt ihn. Hat er nicht vorhin Schüsse gehört? Immer wieder war er durch die nächtliche Stadt gelaufen. Stimmen und Geräusche von allen Seiten, mal laut, mal leise, doch meist gedämpft, ihm war, als könnte er in die Häuser hineinhören, er schüttelt den Kopf, hat das Gefühl, jede seiner Bewegungen würde sich verlangsamen in dieser unfassbaren Kälte, Stimmen und Geräusche, die sich dehnen, wie von einer gebremsten Schallplatte an sein Ohr dringen. »Hör auf, Vater, nimm den Finger von der Schallplatte. Wir wollen die Geschichte wieder normal hören!« Was war das? Lachen und Stimmen und Musik, die er gehört hatte, als er an einer der großen Villen am Stadtrand vorbeigekommen war, hier wohnten die angesehenen Familien von Novi Sad, aber was hatte das heute schon zu bedeuten. Und was gab es zu lachen im Januar 1942? Aber man muss sich die Zeit vertreiben, bevor es ganz dunkel wird.
Schüsse? Nein, noch nicht. Stimmen und Bilder und Menschen, und er notiert all das in sich hinein, Zahlen, Zahlen, Menschen. »Einer wird bezahlen, am Ende vielleicht alle«, und als er in der beginnenden Nacht am Banschaftspalast vorbeigekommen war, die Kälte des Flusses noch unter seinen Kleidern, auch hier Truppen, Soldaten, Stahlhelme und Pelzmützen, die Blauen der Gendarmerie, die Grauen und Grünen des Heeres, Glutpunkte ihrer Zigaretten, schien es ihm, die Wände und Mauern aus Beton würden die Melodien und Lieder und Märsche und das Klappern der Hufe der Pferde und das Knallen der Absätze der Soldaten Wozu ist die Straße da, zum Marschieren, zum Marschieren um die weite Welt zu ihm werfen, halblaut, denn es lag ja Monate zurück und die Vergangenheit dämpfte die Töne, aber dennoch deutlich zu vernehmen all das, ein immerwährendes Echo der Parade der Sieger, vor mehr als einem halben Jahr, Lieder und Märsche und Stimmen und Hufgeklapper zwischen den Mauern, kalt sah er aus der Banschaftspalast, die Betonwände wirkten wie mit Raureif überzogen, obwohl ja Sommer war, 1941, endlose Kolonnen, die den Palast passierten, der kalt und lang gezogen und klobig und doch seltsam filigran in seiner Langgezogenheit neben dem Zentrum der Stadt lag, Fahnen, Menschen unter Fahnen, Tausende Bajonette an den Läufen der Gewehre, und die Pferde dampften, als würden sie die kommende Kälte schon spüren, und der Mann stand ohne Pelzmantel am Rand der Parade. Dann hatte er die Stadt verlassen, und nun scheint es ihm, er wäre das ganze letzte halbe Jahr, das zwischen der Parade der Sieger und dem Januar 1942 lag, in einem großen Halbkreis wieder zurück in die Stadt marschiert, durch Dörfer, an kleinen Flüssen vorbei, bunten Laubwäldern, die kahl wurden, kleinen Weihern, dem Winter zu.
Eine Brücke am Fluss. Ein Dorf in der Nähe, in dem auch die Kinder getötet wurden, immer noch und wieder im Januar. »Fünfzig Leichen?« »Nein.« »Siebzig?« »Nein.« »Wie viele?« »Ich muss in mich horchen.« Kinder, was sollten sie auch leben ohne ihre Eltern? Stimmen, Tote, die über den Fluss in die Stadt kamen, ins JETZT.
Er steht vor der Tür der Synagoge, blickt auf das kreisförmige Fenster unterm Dreieck des Portals, die große Kuppel weit über ihm in der Nacht. Sterne. Er legt den Kopf in den Nacken. Wo ist der Mond? Seit Tagen hat er keinen Mond mehr gesehen. Er wanderte am Ufer des Stroms entlang. Kleinere Flüsse mündeten in den Strom. Kleinere Flüsse, die sich zuvor verzweigten, durch Dörfer flossen, deren Namen der Mann noch nie gehört hatte und tief in sich notierte, auf das noch frische Papier seiner Erinnerungen, das schon fleckig zu werden begann, aber wirkliche Notizen waren verdächtig, konnten gefunden werden, und so bewegte er die Lippen, während er durch die verschneite Ebene kam, früher Januar 1942, sprach flüsternd die Namen der Dörfer, die ihm so fremd klangen, wieder und wieder, bis sie ihm leicht von der Zunge gingen und er nachts im Schlaf noch die Lippen bewegte, näher führten ihn die Namen an Novi Sad heran, so wie die Flüsschen sich dem Strom näherten, und dann doch wieder weg von der Stadt, die nun wieder Új-Vidégh genannt wurde, und zu jedem der Namen gehörte eine Zahl, die größte würde noch kommen, Zahlen, die ihm fremd waren, Menschen in Flüssen, nur selten fand er ihre Namen, und so notierte er alles in sich hinein, er hatte in seiner Jugend recht gut Schach gespielt und sein Gedächtnis war noch gut, obwohl er schon über vierzig war, und er glaubte fest, dass er, wenn er jünger gewesen wäre in diesen kalten Tagen und Monaten und Jahren, schreiend durch die verschneite Vojvodina gerannt wäre, er hätte so sein Gedächtnis geleert unterwegs, zurück in seine Stadt, die in wärmeren Gefilden lag, oder zu seinem Bruder, der in einem Gebirge lebte, über dem fast immer die Sonne schien, aber so zählte und notierte er, Namen und Namen und die Zahlen der Toten, wann hatten die Aktionen begonnen?, wann sah er die ersten Menschen in einem der Flüsse?, Namen von Dörfern, Namen von Flüssen und Flüsschen, Zahlen. »Was hast du gesehen, alter Mann?«, aber der alte Mann, der nur einen Bauernkittel trug, schwieg und blickte auf die Häuser am Ufer, deren Türen offen standen, und die Kälte drang in die leeren Räume, und als er sich noch einmal umdrehte auf seinem Weg zurück Richtung Novi Sad, war der alte Mann verschwunden, nur der umgestürzte Baum, auf dem er gesessen hatte, war lang und dunkel im Schnee zu erkennen.
Clemens Meyer:
Nacht im Bioskop
Erzählung, Faber & Faber
96 S., geb., 18,00 €
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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