Utopie, klein und bewohnbar

Eine Amerikanerin lernt den Wilden Osten der Nachwendezeit lieben

  • Lesedauer: 9 Min.

Dass ich eines Tages Meta folgen würde, hätte ich nie gedacht. Dienstags und donnerstags vor unserem Seminar zur Jüdischen Geistesgeschichte Berlins saß sie mit den Gruftis unter den Kastanien auf dem Hof, als Einzige, die nicht verkleidet wirkte. Ihre schwarze Kleidung war gut geschneidert, nicht faschingshaft, und sie hatte keine Piercings. Das gefiel mir, ich hätte mich auch keine getraut. Das lange schwarz gefärbte Haar ließ sie noch schmaler und blasser wirken, jünger als ich. Aber sie strahlte eine Energie aus, die sie mit weit ausholenden Gesten über die anderen verteilte. Als ich sie das erste Mal so sah, blieb ich im sicheren Abstand stehen, als könnte die Gruppe, in ihrem Bann, gleich zu einer wilden Aktion aufbrechen, sogar kreisend in die Luft steigen. Doch gleich darauf zerstreuten sie sich wie sanft angestoßene Billardkugeln. Meta, die Spielkugel, glitt mir in den Seminarraum voraus.

Im Seminar fiel ihr zu allem etwas ein, und immer so ungestüm, sie stellte Fragen in den Raum, mit denen niemand etwas anzufangen wusste. Das war den anderen lästig, es hieß, sie hört sich gern reden. Doch mir schien, Meta wollte auch sie so heftig reden hören, vielleicht käme dann die rettende Idee. Nur ließ sich niemand darauf ein, sie schienen Metas Begeisterung peinlich zu finden. So lässt man ein begabtes Kind auflaufen. Jedes Mal steckte sie die Enttäuschung weg, fußreifenklirrend lief sie nach dem Seminar davon. Endlich traute ich mich und widersprach ihr; sie grinste mich an.

Isabel Fargo Cole

Ostberlin, Mitte der 1990er:
Endlich ist Christina angekommen in der Stadt ihrer Träume. Berlin nach dem Mauerfall ist für die junge Amerikanerin die Verheißung, der Ort der unbegrenzten Möglichkeiten.

Sie kann es kaum erwarten, die Geheimnisse dieser so lange verborgenen Stadt und ihrer Bewohner zu ergründen. Sie zieht in eine Hausgemeinschaft in einem ehemals besetzten Haus, wo die Lebenskünstlerin Meta einen Salon betreibt. Abend für Abend sitzen dort die früheren Hausbesetzer zusammen und diskutieren über die neugewonnene Freiheit, über die Abgründe des Kapitalismus und den untergehenden Sozialismus: die ehemalige Schauspielerin und Kadersozialistin Karla etwa, oder Wolfgang, der ehemalige Grenzsoldat, in den sich Christina verliebt. Für sie ist die junge Hausgemeinschaft die Verwirklichung einer sozialistischen Utopie, und sie saugt die Gespräche begierig auf …

Isabel Fargo Cole, geboren 1973 in Galena, Illinois, wuchs in New York City auf und studierte Literatur, Geschichte und Philosophie in Chicago sowie Russisch und Neuere Deutsche Literatur an der Humboldt-Universität Berlin.

Seit 1995 lebt sie als freie Schriftstellerin und Übersetzerin in Berlin; sie hat u. a. Wolfgang Hilbig und Franz Fühmann ins Englische übersetzt und wurde 2018 mit dem Helen-und-Kurt-Wolff-Übersetzerpreis ausgezeichnet.

Ihr Debüt Die grüne Grenze war für den Klaus-Michael Kühne-Preis 2017 und für den Preis der Leipziger Buchmesse 2018 nominiert.

Cole liest am 23.9. in Berlin und am 24.9. in Weimar. Nähere Infos unter: www.edition-nautilus.de/buchpremiere-das-gift-der-biene

Sie meldete sich für das Referat über jüdische Mystik, ich schloss mich ihr an, und wir durften es gemeinsam vorbereiten.

»Hast du die Kabbala?«, fragte sie mich. Ich war mir nicht einmal sicher, was die Kabbala eigentlich sei. Ethan konnte ich nicht fragen, ich hatte immer noch nicht auf seine Mail geantwortet. »Mein Nachbar hat sie bestimmt. Hast du Zeit, willst du mitkommen? Es ist ja nicht weit.«

Das war mein Weg nach Prenzlauer Berg, an der S-Bahn entlang, über die Museumsinsel, den Hackeschen Markt mit der alten Brandmauer-Werbung für das Museum für deutsche Geschichte: ein Holzschnitt-Bauer, der die Fahne Frÿheit schwenkte. Ich bekam jedes Mal Lust, ihm zu folgen.

»Eigentlich habe ich mit Religion wenig am Hut«, sagte Meta. »Als ich klein war, musste ich immer mit meiner Mutter in die Kirche, das fand ich schrecklich. Oh, Entschuldigung, du bist doch Ami, nicht wahr? Ihr seid doch alle so - «

»Ich bin atheistisch erzogen. Ich komme aus New York. Als Kind hatte ich immer Angst, in Kirchen reinzugehen. Meine Eltern schauen sich Kirchen gern an, wegen der Architektur. Aber ich dachte immer, wir dürften das nicht. Weil die Leute da drin glauben, Atheisten kämen in die Hölle. Ich habe mich immer gefühlt, als würden wir gleich in die Hölle kommen. Später bin ich auch gern in Kirchen gegangen, gerade deshalb.«

»Bei uns war es umgekehrt. Wer in die Kirche ging, kam in die sozialistische Hölle.«

Seit wann ich hier lebe, fragte sie, wie alt ich sei, was ich vorhabe - sie: seit 1988, achtundzwanzig, wolle vielleicht mal Kunst machen, suche Anregungen. »Ich gehe im Sommer ein halbes Jahr nach Israel, das hat sich durch Zufall ergeben. Ich bin noch nie so weit gereist, mit dem Flugzeug geflogen, habe mich nie mit dem Judentum beschäftigt, da tut sich plötzlich eine ganze Welt auf, und die Mystik erst, jetzt habe ich richtig Lust darauf. Kunst als Golem, das wäre doch was - und Geister, der Geist, überhaupt, der Tod müsste das Medium sein … « Was weiß sie denn vom Tod?, fragte ich mich. »Das Material ist ja das Medium des Künstlers, aber der Künstler ist auch das ›Medium‹ des Materials … «

Schon achtundzwanzig war sie. Jahrtausendwende. Wäre ich dann also auch noch jung? Ihre graublauen Augen traten leicht hervor, so groß, als müsste das Gesicht die Augen erst einholen. Auf ihrer Kleinmädchenhaut lag jeder Schatten wie ein blauer Fleck. Aber ihre Hände waren rau, rot, knochig, als würde sie längst richtig arbeiten.

Die große Brachfläche hinter der Rosenthaler Straße kannte ich vom Vorbeilaufen, und die graue Häuserzeile dahinter, in der sich ein Haus, zwei Flügel im rechten Winkel, buttergelb abhob. Wenn man weiterlief, schob sich ein marodes Gebäude davor, ein freistehender Gartenflügel. Dorthin, durch Gras und Gestrüpp, führte ein Trampelpfad, den wir jetzt einschlugen. Die gelbe Fassade leuchtete immer makelloser, wie simuliert, davor stach eine Terrakotta-Terrasse in die Brache. Ein Tisch mit Stühlen stand im hohen Gras vorm Gartenhaus: Tassen mit Kaffeesatz, Frühstücksbretter, ein halbes Brot. Die Tür zur Ruine stand offen.

»Dürfen wir überhaupt hier rein?«, fragte ich.

»Alles Eigentum ist Volkseigentum«, sagte Meta. »Außerdem wohne ich hier.«

Wie in meiner Lieblingskneipe: abgewetzte Dielen, zerschlissene Kelims, herunterzüngelnde Tapeten, Familienfotos vom Flohmarkt, Nähmaschinentische, ein Zuckerbäcker-Turm von Kachelofen. Ein wuchtiger dunkler Tresen, dahinter fingen Spiegel und Flaschen das Licht.

Das gelbe Haus und das Gartenhaus hatten lange leer gestanden und wurden kurz vor der Wende besetzt, erzählte Meta draußen beim Espresso. Sie war mit ihrer Schmuckwerkstatt ins Erdgeschoss des baufälligen Gartenhauses gezogen, wo es nie jemand lange ausgehalten hatte. Als das Haus vor kurzem saniert worden war, war das Gartenhaus wegen ungeklärter Eigentumsverhältnisse verschont geblieben. Im Vorderzimmer, Metas Salon, hatten sich die ehemaligen Hausbesetzer, inzwischen auf Umsatzwohnungen verteilt, ein Jahr lang immer wieder eingefunden, um zuzuschauen, wie die Fassade des Vorderhauses neu verputzt und gestrichen wurde. Die Öfen wurden abgerissen, die winzigen Wohnungen zusammengelegt. Im Januar waren sie allesamt mit Sozialmietverträgen wieder ins Vorderhaus eingezogen. Ins Gartenhaus wollte nun erst recht keiner rein, alle waren viel zu bequem geworden. Nur Meta harrte in ihrem Salon aus. Ja, es sei nicht mehr so wie früher, aber immerhin eine richtige Hausgemeinschaft. Wer trinken wollte, kam zu ihr, wer lesen wollte, ging zum Wölfchen. Na, dann wolle sie mal zu ihm hochschauen wegen Kabbala und so - damit verschwand sie ins gelbe Haus.

Eine gute Viertelstunde war sie weg, einmal winkte sie aus dem ersten Stock. Von dort kam seltsame Musik. Gab es Menschen außer mir, die Gesualdo hörten? Schwalben kreisten über der Brache, vom Horizont kam Fliedergeruch, ein Hämmern und Sägen. Man hatte die Hausbesetzer … was wäre das Gegenteil von enteignet? Durch das viele gemeinsame Frühstücken hatten sie sich das Haus verdient. Das hier war die Utopie, klein und bewohnbar. Eine Tür knallte, Schritte klapperten, Meta erschien mit Buch und Bohrmaschine.

»Ich dachte immer, die Kabbala wäre ein Buch. Es sind aber ganz viele Bücher. Wolfgang hat nur Das Buch des Glanzes. Nimm du mal, ich komme am Wochenende eh nicht dazu. Mach keine Eselsohren rein. Und jetzt muss ich dich rausschmeißen.«

Ich gab ihr meine Telefonnummer, sie gab mir die von Wolfgang, da sie selbst kein Telefon hatte. An der Tür umarmte sie mich. So taten das die Deutschen, hatte ich beobachtet, es schien nur eine Geste zu sein, wie ein Handschlag. Aber mit solchem Schwung nun, ich war wie herumgewirbelt und ganz woanders wieder abgesetzt. Ich lief durchs gelbe Haus hindurch und um die Ecke zur Straßenbahn.

Die wohlvertraute Haltestelle, bloß diesmal war ich nüchtern.

Das Telefon klingelte schon, als ich die Tür zur WG aufschloss.

»Immer fällt mir alles erst hinterher ein. Willst du mit Zelten fahren? Morgen um 23 Uhr bei mir. Weißt du die Adresse noch? C … straße 24.«

Der Name der Straße tut nichts zur Sache. Es gibt sie sozusagen nicht mehr, es hat sie sozusagen auch nie gegeben.

Vor lauter Aufregung konnte ich kaum schlafen. Als ich aufwachte, völlig erschlagen, kam mir die Verabredung lästig vor. Am Abend fuhr ich nach Mitte, doch mit einer Lust wie seit langem nicht mehr auf meine Mitte, auf den Wein, das Laufen im Regen, die Tramfahrt danach, die Rückkehr zum Schreibtisch. Als ich aus der Straßenbahn stieg, setzte der Regen stärker ein. Im Luftzug stand die Tür des Hauses einen Spaltbreit offen. Sonst wäre ich einfach weitergelaufen. Denn ich hätte bei Wolfgang klingeln müssen, und ich kannte ihn ja gar nicht.

So sahen damals die Spartakistentreffen aus, dachte ich, als ich durchs Salonfenster spähte: Kerzenlicht, Meta in einer Lederjacke fuchtelte mit den Händen vor versammelter Mannschaft. Sie schenkte mir Tee ein. Ob ich einen Schlafsack hätte? Ich hatte an nichts gedacht.

Ein Knurren aus der Ecke, ein fremdartiges Deutsch: »Ich komm eh ni’ mit, sie kann meinen nähmn.« Das war das Wölfchen; er sollte überredet werden, mitzufahren, aber er winkte ab, so ein Stress wegen einer Nacht zelten, es regnete ja, und morgen wollte er auf den Trödelmarkt. Scheu zog er den grauen Kopf ein.

Als wir losliefen, kurz vor Mitternacht, um den ersten Zug mit Wochenendticket zu erwischen, war der Himmel wieder klar: Es würde der erste schöne Samstag werden. Wolfgang begleitete uns, noch unentschieden, zum Alexanderplatz und wollte dann nicht mehr allein nach Hause laufen. Also fuhr er doch mit. Im Zug fragte ich Meta, wo es denn hingehe. Die Antwort verstand ich nicht.

»Polen«, erklärte sie. Nur durch Zufall hatte ich meinen Pass dabei. Wolfgang behauptete, wenn wir schon nach Polen fuhren, müssten wir unbedingt nach - wohin verstand ich auch nicht - , wo es den Wald gab, er hatte gerade einen Beitrag darüber gesehen, den allerletzten Urwald. Sonst sei es Quatsch, nach Polen zu fahren.

Man rauchte und ließ ihn ausreden. Hier herrschte unendliche Nachsicht. Hier wusste niemand, dass ich nicht geschlafen hatte, gar nicht mehr schlief, Rauch nicht vertrug, ohne Kaffee frühmorgens kein Mensch war, ein Monster sowieso, dass das Problem bei mir lag - niemand wusste es, vielleicht stimmte es gar nicht. Im Rucksack hatte ich das Buch des Glanzes. Meta lag mit dem Kopf auf dem Schoß des Russen, der in der Unterführung an der Friedrichstraße Geige spielte. Er hieß Wolodja und war erster Geiger der Irkutsker Symphonie gewesen. Ich hatte ihm einmal Geld gegeben.

Wolfgang saß mir gegenüber. Sein Gesicht war jung. Er öffnete eine Büchse Hering und reichte sie mir, und ich aß Hering, als täte ich es jeden Tag. Als die Wodkaflasche die Runde machte, nahm ich einen Schluck und lehnte mich in die Ecke zurück. Die Tür zwischen den Waggons stand offen, der Nachtwind kam herein, der Sommer mit Schnapsfahne.

Isabel Fargo Cole:
Das Gift der Biene
Edition Nautilus
224 S., geb., 20,00 €

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