Großer Seitensprung nach vorn

Während der Kulturrevolution dient Soldat Wu Dawang dem Volke

  • Lesedauer: 9 Min.

Vorbemerkung der Zensoren

An alle Verlage, Zeitungen und Zeitschriften: Yan Liankes Roman »Dem Volke dienen«, erschienen 2005 in der ersten Ausgabe der Zeitschrift »Hua Cheng«, beinhaltet vulgäre und obszöne Darstellungen sowie schwerwiegende gedankliche Irrtümer, außerdem wird das ehrwürdige Gebot »Dem Volke dienen!« verachtet und verunglimpft. Dieses Werk darf in keiner Form nachgedruckt oder verbreitet werden - weder in der Presse (auch nicht in Auszügen) noch als Buch, als audiovisuelle CD oder im Internet.

George Seguin

Der junge Mustersoldat Wu Dawang lässt sich von der Nymphomanin Liu Lian verführen - ausgerechnet die Frau seines Chefs, des mächtigen Divisionskommandeurs. Zur Hochzeit der Kulturrevolution sprengt die explosive Verbindung der beiden sämtliche gesellschaftliche Tabus. Die mit vollendeter Komik und rasant geschilderte Affäre der beiden nimmt in ihrer zügellosen Heftigkeit bald unfreiwillig politische Dimensionen an, und Maos berühmte Losung »Dem Volke dienen« wird zum Passwort der Liebe und ihrer schrankenlosen Feier umfunktioniert. Was als zarte Liebesgeschichte beginnt, gerät zu einer verrückten erotischen Konterrevolution und artet immer mehr zu einer lustvollen Raserei aus, in der reihenweise Mao-Büsten klirrend von den Schränken kippen.

Yan Lianke, 1958 in der Provinz Henan geboren, diente ab 1978 in der Volksbefreiungsarmee, an deren Kunsthochschule er Literatur studierte. Obwohl einige seiner Werke auf dem Index verbotener Bücher stehen, erhielt er zahlreiche chinesische Literaturpreise und war für viele internationale Literaturpreise nominiert. Er lebt heute in Peking.

Ulrich Kautz war Übersetzungswissenschaftler, Dolmetscher und Übersetzer, der im August 2020 verstarb. »Dem Volke dienen« ist seine letzte große Arbeit. Kautz studierte zwischen 1957 und 1961 Dolmetschen und Übersetzen für Englisch und Chinesisch an der KMU Leipzig und arbeitete ab 1961 als Übersetzer und Dolmetscher an der DDR-Botschaft in Peking. 1966 musste er mit der aufkommenden Kulturrevolution als »sowjetischer Revisionist« China verlassen. Zwischen 1973 und 1976 war Kautz Chefübersetzer an der Handelsvertretung der DDR in Peking. Danach war er vor allem als Hochschullehrer und Übersetzer zahlreicher chinesischer Autoren tätig.

Das wahre Leben lässt sich manchmal nur in Form eines Romans auf Papier bannen. Schreiben wir also einen Roman! Manches, was sich in der Realität ereignet, erscheint ja wirklich nur glaubhaft, wenn man es in das Gewand der Fiktion kleidet. Was geschehen ist, geschah so im Roman, geschah aber auch im wirklichen Leben. Oder sagen wir es anders: Im wirklichen Leben wiederholte sich, was im Roman »Dem Volke dienen« steht.

Als Gruppenführer Wu Dawang, dem Divisionskommandeur als Ordonnanz und Koch zugeteilt, mit einer Handvoll Gemüse aus dem Garten in die Küche kam, hatte er für einen Moment das Gefühl, als detonierte unmittelbar vor seinen Augen eine Wasserstoffbombe: Auf der gekachelten Herdplatte lag abermals jene Holztafel! Die Tafel mit den fünf großen roten Schriftzeichen für »Dem Volke dienen!«, die normalerweise ihren Platz auf dem Esszimmertisch hatte. Links von der Schrift strahlten die fünf roten Sterne aus der Nationalflagge, rechts prangte ein Gewehr mit baumelnder Feldflasche, und am unteren Rand waren üppige Getreidegarben abgebildet. Der Gruppenführer galt in seiner Division als Vorbild beim Politstudium und kannte natürlich den tieferen Sinn dieser Symbole, wusste also, dass die Sterne für die Revolution standen, die Wasserflasche und das Gewehr für Kampf und Geschichte - den langen, entbehrungsreichen revolutionären Prozess -, und die Garben für reiche Ernten und eine lichte Zukunft, also für die herrliche Zeit nach dem vollendeten Aufbau des Kommunismus.

Eines Tages hatte der Divisionskommandeur diese weiß lackierte, rot beschriftete und mit Sternen, Gewehr, Flasche und Garben in rot und gelb geschmückte Holztafel von irgendwoher mit nach Hause gebracht und auf den Esstisch gelegt, den seine Ordonnanz gerade deckte. Er blickte Wu Dawang eindringlich an und fragte: »Weißt du, was das alles bedeutet?«

Wu betrachtete aufmerksam die Tafel und erklärte dann die Symbolik bis ins Kleinste, woraufhin sein Vorgesetzter über das ganze Gesicht zu strahlen begann: »Nicht schlecht, wirklich gar nicht schlecht! Meine Ordonnanz! Da hat also selbst mein Koch ein höheres Bewusstsein als die alle!«

Zwar wusste Wu nicht, wen der Divisionskommandeur mit »die alle« meinte, doch getreu dem soldatischen Prinzip »Sag nichts, frag nichts und tu nichts, was dir nicht zukommt!« trollte er sich und widmete sich erneut der Suppe für den Kommandeur und dessen Frau. Die Tafel mit der Aufschrift »Dem Volke dienen!« aber hatte von da an als auffallende Tischdekoration neben den Flaschen mit Essig, Chilisoße und kaltgepresstem Sesamöl ihren Platz auf dem Esstisch.

Unmerklich verfloss die Zeit; die Tage gingen dahin, gleichförmig und friedlich, wie der Fluss, der durch das Kasernengelände strömte. Der Divisionskommandeur stieg jeden Morgen schon vor dem Wecksignal in voller Montur die Treppe vom ersten Stock herab und vergewisserte sich, dass seine Unteroffiziere und Soldaten auf dem großen Exerzierplatz zwischen den Gebäuden mit dem gebührenden Eifer ihren täglichen Drill absolvierten. Abends kam er, inzwischen doch ein wenig ermüdet, stets erst ein Weilchen nach dem Zapfenstreich heim, zog unten schon seine Uniform aus und machte sich für die Nacht fertig, ehe er zum Schlafen in den ersten Stock hinaufging. Die Revolution und die Arbeit, das waren seine Leidenschaft und sein Leben, ausschließlicher Inhalt und Kern seiner Existenz. Seit frühester Jugend waren die großen historischen Ereignisse des vergangenen halben Jahrhunderts - der Widerstandskrieg gegen Japan sowie, davor beziehungsweise danach, der Agrarrevolutionäre Krieg und der Befreiungskrieg - für ihn die Elle gewesen, an der er den Sinn jedes einzelnen Tages in seinem Leben gemessen hatte, und auch jetzt noch mit fünfzig, wo er den Zenit bereits überschritten und das Alter vor Augen hatte, hielt er es weiter so.

Die Gattin des Divisionskommandeurs, eine hübsche, junge Frau namens Liu Lian, die von ihm stets nur Xiao Liu - die kleine Liu - genannt wurde, war siebzehn oder achtzehn Jahre jünger als er. Vor ihrer Heirat mit dem Kommandeur hatte sie als Schwester im Divisionslazarett gearbeitet, seither aber keinen Fuß mehr über des­sen Schwelle gesetzt. Hatte ihr Mann ihr das Arbeiten untersagt? Oder hatte sie selbst keine Lust mehr, Kranke zu pflegen? Man wusste es nicht. Jedenfalls waren seit ihrer Hochzeit bereits fünf Jahre ins Land gegangen, in denen sie sich als Hausfrau im Glanz ihres Ehemanns gesonnt und es sich als Herrin eines Hauses für privilegierte Kader daheim gemütlich gemacht hatte.

Wu Dawang hatte vor Dienstantritt bei dem Divisionskommandeur praktisch nichts von Liu Lian gewusst und wusste auch jetzt noch sehr wenig über sie. Ihm war weder bekannt, wo sie herkam, noch wann sie in die Armee eingetreten und Krankenschwester geworden war. Auch dass sie schon seit fünf Jahren keiner Arbeit mehr nachging, was sie im ersten Stock trieb, wenn sie sich nach den Mahlzeiten wieder dorthin zurückzog, ob sie noch einen Lohn bekam, obwohl sie nicht arbeitete, und ob sie in den fünf Jahren, während derer sie keine Uniform mehr getragen hatte, die Vorschriften und Pflichten einer Armeeangehörigen vielleicht vergessen hatte - all das wusste er nicht. Liu Lians Vergangenheit war für ihn wie ein Gebirge, das zu allen Jahreszeiten von dichtem Nebel verhüllt ist: Unmöglich zu sagen, ob man dort kahle Felsen oder üppige Bergwiesen, unzugängliche Schluchten oder liebliche Täler mit Vogelgezwitscher und murmelnden Bächlein vorfinden würde.

Da er nichts wusste, machte er sich auch keine Gedanken, und weil er sich keine Gedanken machte, war der Divisionskommandeur überaus zufrieden mit ihm. Wu Dawang war inzwischen schon so lange bei der Armee, dass er als » Revolutionärer Veteran« galt. In seiner Personalakte häuften sich die Auszeichnungen - Belobigungen, ehrenvolle Erwähnungen, Verdiensturkunden - wie die Waren im Speicher, und pünktlich zur Jahresmitte und am Jahresende wurde er vom Chef der Divisionsverwaltung als Vorbild herausgestellt und als Mustersoldat geehrt. Dennoch war er damit bei weitem nicht zufrieden. Um es rundheraus zu sagen: Wu strebte nach Ruhm, er war ein Perfektionist in Uniform. Allen war noch gut im Gedächtnis, wie er einmal während eines Divisions-Leistungsvergleichs, bei dem es sowohl um die Erfolge im Politstudium als auch um die fachliche Kompetenz in Sachen Logistik ging, nicht nur 286 Worte des Vorsitzenden Mao sowie drei »klassische Schriften« Mao Zedongs - »Dem Volke dienen!«, »Dem Andenken Bethunes« und »Yu Gong versetzt Berge« - fehlerfrei hersagen konnte, sondern darüber hinaus bei Offizieren wie Soldaten des Divisionsstandortes schlagartig dadurch berühmt wurde, dass er innerhalb von dreißig Minuten eine Kochstelle hergerichtet, Gemüse zerkleinert und ein in jeder Hinsicht gelungenes Vier-Gänge-Menü plus Suppe zubereitet hatte. Gerade deshalb hatte ihn ja der Divisionskommandeur als persönliche Ordonnanz und zugleich als persönlichen Koch ausgewählt.

Der Verwaltungsleiter hatte ihn damals gefragt: »Was sind die wichtigsten Prinzipien, die du beachten musst, wenn du jetzt beim Kommandeur Dienst tust?«

»Ich darf nichts fragen, nichts tun und nichts sagen, was mir nicht zukommt.«

»Und weiter?«

»Ich muss mir immer bewusst sein, dass mein Dienst beim Kommandeur Dienst am Volke ist.«

»Noch mehr kommt es aber darauf an, dass das keine bloßen Sprüche bleiben und du deinen Worten auch Taten folgen lässt.«

Wu erwiderte: »Genosse Verwaltungsleiter, Sie können sich darauf verlassen, bei mir werden Wort und Tat, Denken und Handeln, sozialistisches Bewusstsein und fachliche Kompetenz eins sein.«

»Gut! Dann also los! Und wir erwarten, dass bei der Kompanie und deinen Leuten zu Hause nur Gutes über deinen Dienst beim Kommandeur zu berichten sein wird!«

So wurde Wu Dawang von der Wachkompanie ins Haus des Divisionskommandeurs abkommandiert.

Seit einem halben Jahr versah er nun dort gewissenhaft seine Pflichten, kochte, baute Gemüse an, hielt das Erdgeschoss sauber, bepflanzte den umzäunten Vorgarten mit Blumen und Kräutern und beschnitt die Bäume und Sträucher. Von einem kurzen Heimaturlaub abgesehen hatte er das Anwesen und die kleine Villa mit der Hausnummer 1 nicht verlassen. Angesichts Wus Zuverlässigkeit hatte der Divisionskommandeur in seiner geradezu besessenen Hingabe an die revolutionäre Arbeit und die Sache der Kommunistischen Partei eine vom Zentralkomitee der Partei initiierte Bewegung zur Reduzierung des Stellenplans zum Anlass genommen, mit gutem Beispiel voranzugehen und sowohl seine persönliche Ordonnanz als auch seinen Leibwächter einzusparen. Seither waren, wenn er zum Dienst gegangen war, nur noch seine zweiunddreißig Jahre alte Ehefrau Liu Lian und sein Koch Wu Dawang, der nun zusätzlich als Ordonnanz Dienst tat, in dieser ursprünglich von den sowjetrussischen Beratern auf dem Kasernengelände errichteten Offiziersvilla übriggeblieben, gleich einer einsamen Blüte und einer vergessenen Hacke auf dem Gelände einer großen Gärtnerei.

Wu hätte nicht zu sagen vermocht, wie alles begonnen hatte. Er wusste nicht, dass die Frau des Kommandeurs ihn schon ein halbes Jahr bei den gemeinsamen Mahlzeiten immer wieder eingehend gemustert hatte, dass sie ihn stundenlang durchs Fenster beim Gemüsehacken hinter dem Haus beobachtete und dass sie, als er die Weinranken im Vorgarten hochband, sich wegen des dichten Weinlaubs sowie der rigorosen ideologischen Schulung, die ihr die Sicht beziehungsweise die Seele verdeckten, genötigt sah, den hochauflösenden Feldstecher ihres Gatten zu Hilfe zu nehmen, um ihn zwischen den Blättern auszumachen und heranzuzoomen, damit sie die Augen wie ein Juwelier, der einen Diamanten oder Achat unter der Lupe begutachtet, unverwandt auf den Schweißperlen auf seiner Stirn, den blauen Adern an seinem Hals und der sonnengebräunten Haut seiner bloßen Schultern verweilen lassen konnte, als bewundere sie ein Stück kostbare violette Jade. Von alldem hatte er, wie gesagt, nicht die leiseste Ahnung. Ebenso unempfindlich wie der japanische Schnurbaum am Wegrand für den Duft der Päonien im Garten hinter der Mauer bemerkte er überhaupt nichts. Als wäre es aus der Zeit gefallen, war Haus Nr. 1 nach wie vor eine Oase der Ruhe und des Friedens, erfüllt von unausgesprochener Liebe und poetischem Verlangen, mochten die Zeitläufe auch noch so bewegt sein und draußen im Land Revolution und Kampf toben.

Lianke Yan:
Dem Volke dienen
Matthes & Seitz Verlag
229 S., kt., 10,00 €

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