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»Germania, mir graut vor dir«

Stephan Reinhardt würdigt den Dichter Georg Herwegh in einer umfangreichen Biografie

  • Klaus Bellin
  • Lesedauer: 7 Min.

Das Königliche Ober-Censur-Collegium in Berlin konnte den sensationellen Erfolg des Lyrikbandes nicht verhindern. Es verbot ihn zwar in aller Eile, aber die »Gedichte eines Lebendigen«, im Juni 1841 anonym erschienen, verbreitet von einem eigens dafür in der Schweiz gegründeten Verlag und auf raffinierten Wegen nach Preußen geschleust, waren auf ihrem Siegeszug nicht zu stoppen. Die Leute rissen einander das Büchlein, das nach Freiheit und sozialer Gerechtigkeit rief, regelrecht aus den Händen.

Bis Ende 1842 waren fünf Auflagen von je tausend Exemplaren verkauft, und im Jahr darauf kamen noch einmal zwölftausend Exemplare dazu. Sie machten Georg Herwegh, den 24-jährigen, steckbrieflich gesuchten Autor der Sammlung, über Nacht zum populärsten Dichter des Vormärz. »Wie haben nicht Herweghs Lieder gewirkt?«, fragte Theodor Fontane, der später gar von der »Herwegh-Zeit« sprechen wird. »So mancher, dem die Politik ein Greuel war, ist durch sie plötzlich zum Manne geworden, und Gut und Blut setzt er für die ›Freiheit‹ ein, zu deren Fahnen ihn das begeisternde Wort des Dichters gerufen hatte. Ich weiß ja, wie es mir selber erging. Ich las! Es packte mich …«

Fontane, damals Apothekerlehrling in Berlin, wurde Mitglied eines der vielen Herwegh-Klubs, die es im Lande auf einmal gab, und als der umschwärmte Poet im September 1842 in Zürich aufbrach, um nach Deutschland zu reisen, wo man die Zensur gerade etwas gelockert hatte, wurde die Fahrt zum Triumphzug.

Man empfing ihn mit Eskorten, Trompetenschall und sogar der Marseillaise. In Leipzig schmückte man ihn mit einem Lorbeerkranz, und der Schriftsteller Karl Gutzkow schrieb hinterher, er sei der »Matador des Jahres« gewesen. Herwegh traf Karl Marx, Michail Bakunin, Robert Blum und Emma Siegmund, die Tochter eines Modehausbesitzers in Berlin, seine emphatischste Bewunderin und spätere Frau. Im November hatte er noch eine Audienz bei Friedrich Wilhelm IV., dem neuen König. Die Begegnung, von monarchischem Hochmut geprägt, verlief einseitig und ziemlich frostig, und weil er dem Treffen noch einen Offenen Brief an Seine Majestät folgen ließ, endete alles, wie es nur enden konnte: mit seiner Ausweisung aus Preußen.

So laut und spektakulär ging es im Leben Herweghs nie mehr zu. Im Gegenteil: Der Feier folgten bald Häme und Spott. Dann, nach seinem Tod 1875, wurde es immer stiller um ihn, und schließlich herrschte bloß noch Schweigen. 1919 gab’s wenigstens, ediert von Hermann Tardel, im Verlagshaus Bong eine dreiteilige Werkausgabe, aber das einleitende Lebensbild hielt sich mit böswilligen Bemerkungen über seine Person nicht zurück, nannte ihn einen »unreifen Republikaner«, sprach von »Prahlerei« und »eitler Selbstüberschätzung seines doch nur beschränkten Könnens«. Die Literaturwissenschaft, vom Barrikadenaufruhr in den Gedichten und seiner scharfen Kritik am allgemeinen »Kriegsidiotentum« wenig entzückt, hat ihn dann entschlossen in den Orkus der Geschichte verbannt.

Am besten hatte es Herwegh in der DDR. Da kannte man ihn wenigstens. Da stand sein Name wieder auf Buchdeckeln. Bruno Kaiser, der auf einem Dachboden im schweizerischen Liestal, wo Herwegh begraben ist, den Nachlass entdeckte, hat nach seiner Rückkehr aus dem Exil das erste Mal bereits 1948 mit dem Band »Der Freiheit eine Gasse«, dafür gesorgt, dass man ihn wieder lesen konnte. Nach 1989 war es damit aber schon wieder vorbei. Die Grabesstille, meinte zehn Jahre später Ulrich Enzensberger gleich auf der ersten Seite seiner Herwegh-Biografie, habe er »redlich verdient«. War eben nur ein »zweitklassiger Dichter«. Natürlich.

Dass es das letzte Wort nicht war, ist vor allem Ingrid Pepperle, der besten und rührigsten Herwegh-Expertin (die lange an der Akademie der Wissenschaften der DDR gearbeitet hat), ihrem Mann Heinz, einigen Mitarbeitern und dem Bielefelder Aisthesis-Verlag zu danken. Dort ist inzwischen eine textkritische und fantastisch kommentierte Herwegh-Ausgabe von bislang unerreichter Vollständigkeit erschienen: sechs Bände Gedichte, Prosatexte, Publizistik, Briefe. Eine editorische Glanzleistung und auch Voraussetzung der großen, weit ausholenden Lebensbeschreibung, die Stephan Reinhardt jetzt bei Wallstein vorgelegt hat und die einen bemerkenswerten Vorzug hat: Sie wurde nicht mit der üblichen Herablassung geschrieben.

»Diese Biografie versucht«, heißt es im Vorwort, »Herwegh Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.« Nach Michael Krausnicks Buch »Die eiserne Lerche« von 1990, einer offenen Sympathiebekundung für den Dichter, ist sie mit ihren sechshundert Seiten die stärkste und überzeugendste Antwort auf alle Versuche, in Herwegh nur einen Salonlinken und Hallodri zu sehen, der lediglich das Geld seiner Frau durchbrachte.

Sicher, er genoss seinen Ruhm, den ihm die »Gedichte eines Lebendigen« beschert hatten und er liebte den Luxus. Er hatte mit Emma Siegmund das große Los gezogen, nicht nur, weil sie eine vermögende Frau war, sondern weil sie bis zur Selbstaufopferung alles für ihn tat. Sie verzieh ihm sogar die Affären. Er betrog sie mit Marie d’Agoult, vorher die Geliebte Franz Liszts, und ließ sie später mit den Kindern sitzen, um eine Weile der Frau Alexander Herzens zu folgen. Die Geschichte endete mit einem Lärm, den ganz Europa hörte.

All das kann man auch bei Stephan Reinhardt erfahren. Aber er reduziert Herwegh nicht auf seine Widersprüche und Eskapaden. Er erzählt mit imponierender Intensität die Geschichte eines schwäbischen Rebellen, der sich, geboren 1817, schon im Maulbronner Seminar der herrschenden Knechtschaft widersetzte, der unter der Bank Ludwig Börne und andere verbotene Dichter las, wegen seiner Aufsässigkeit das Tübinger Stift verlassen musste und sich nach der Beleidigung eines Offiziers durch die Flucht in die Schweiz dem Militärdienst entzog.

Er liebte Hölderlin und eiferte Gutzkow nach, schrieb für die »Rheinische Zeitung« von Karl Marx, in seiner Dichtung lebten Aufruhr, Revolution und der Traum von einer neuen Gesellschaft, und als das Jahr 1848 gekommen war, wagte er das Äußerste.

Mit seiner Frau, die in Männerkleidern dabei war, stellte er sich im Frühjahr an die Spitze einer achthundert Mann starken »deutschen demokratischen Legion«, die von Paris aus der badischen Revolution zu Hilfe eilen wollte. Marx hatte vor dem Unternehmen gewarnt, aber Herwegh ließ sich nicht bremsen. Das Unglück kam schneller als gedacht. Bevor die Freischärler etwas ausrichten konnten, war die Truppe schon aufgerieben, und von da an war im Leben Herweghs, der mit Emma den Häschern gerade noch entkam, nichts mehr, wie es gewesen war.

Die Zeitungen kommentierten die Niederlage mit Hohn und Spott und der Lüge, er sei feige geflohen, versteckt unter dem Spritzleder der von Emma gesteuerten Kutsche. Er wehrte sich gegen die Hetze ein ums andere Mal, seine Frau schrieb über das wagemutige Unternehmen ihren furiosen Bericht »Im Interesse der Wahrheit«, aber es half nicht. Das Büchlein wurde umgehend verboten (und brauchte ein halbes Jahrhundert, um durch Vermittlung des jungen Frank Wedekind, versteckt in einem Briefband, veröffentlicht zu werden). »Herweghs sind total ruiniert«, schrieb Fanny Lewald im Oktober 1849 in ihr Tagebuch. Das Paar lebte nun wieder im Pariser Exil, verschuldet und gezwungen, die luxuriöse Wohnungseinrichtung zu verkaufen und in ein Hotel zu ziehen.

Aber Herwegh, enttäuscht über den Ausgang der Revolution, zeitweise depressiv, ließ sich nicht unterkriegen. Lieber nahm er die Armut in Kauf, lieber biss er in den sauren Apfel und verkaufte seine Bibliothek, seine Überzeugung gab er nicht auf. Bis zuletzt blieb er der Dichter, der nicht zu Kreuze kroch, nichts zurücknahm, nicht resignierte, nicht verstummte. 1855 kehrte er wieder zu seiner publizistischen Tätigkeit zurück, er schrieb die »deutsche Marseillaise«, das »Bundeslied des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins«, um das Freund Lassalle ihn gebeten hatte (»Mann der Arbeit, aufgewacht! / Und erkenne deine Macht! / Alle Räder stehen still, / Wenn dein starker Arm es will«), und während Emma Bettelbriefe formulierte, attackierte er (»Ich kämpfe für Ideen, nicht für Erfolge«) Preußens Machtpolitik, den Krieg gegen Frankreich, schließlich Bismarcks Reichseinigung »durch Eisen und Blut«. »Germania«, schrieb er, »mir graut vor dir.« Und am Ende eines Gedichts die Zeile: »Der schlimmste Feind steht an der Spree«.

Noch nie sah man Herwegh so nah, so sorgfältig eingebettet in die deutsche Geschichte, so präzise, differenziert und achtungsvoll gezeichnet wie hier. Die Traditionshüter haben den leidenschaftlichen politischen Dichter, den Pazifisten und Sozialisten ausgemustert, Stephan Reinhardt, der streng den Quellen folgt, macht ihn endlich sichtbar, befreit von übler Nachrede und dem Verdikt, er sei ein »Nestbeschmutzer« gewesen.

Stephan Reinhardt: Georg Herwegh. Seine Zeit - unsere Geschichte, Wallstein Verlag, 636 S., geb., 39,90 €.

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