Propaganda kommt geballt
Antisemitismus in der Hauptstadt hat sich an Coronalage angepasst
Antisemitismus schert sich nicht um Lockdowns: »Trotz der nahezu vollständigen Stilllegung des öffentlichen Lebens ist die Anzahl der uns gemeldeten antisemitischen Vorfälle nicht zurückgegangen«, teilte Benjamin Steinitz am Dienstag mit. Steinitz leitet die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (RIAS Berlin) die ihre Halbjahresbilanz veröffentlichte. Darin wird vor allem die Anpassungsfähigkeit von Antisemitismus auch unter Pandemiebedingungen deutlich: Mit 410 dokumentierten Vorfällen blieb die Zahl auf dem Niveau des Vorjahres, als die Meldestelle 458 Vorfälle verzeichnete. Damit wurden im Schnitt weiterhin mehr als zwei antisemitische Vorfälle pro Tag gemeldet. Von bekannt gewordenen antisemitischen Vorfällen waren 134 Personen direkt betroffen.
Vermutlich als unmittelbare Folge des zeitweiligen Lockdowns verringerte sich die Anzahl bekannt gewordener antisemitischer Angriffe zwar von 16 deutlich auf sechs, auch die Zahl der Beschimpfungen und Pöbeleien von Angesicht zu Angesicht fiel von 102 auf 77. Während der massiven Einschränkungen des öffentlichen Lebens kam es aber zu einer Verschiebung antisemitischer Ausdrucksformen. Diese trafen jüdische Menschen vermehrt in Form von gezielten Sachbeschädigungen, Angriffe oder Propaganda im Internet wie im öffentlichen Raum. So störten Personen mehrere Veranstaltungen von in Berlin tätigen jüdischen Organisationen anlässlich des Gedenktages Jom haSchoa am 20. April mit Pöbeleien und NS-verherrlichenden Inhalten. In zahlreichen Massenmails imaginierten Verfasser die Errichtung einer »NWO« (Neuen Welt Ordnung) »unter der Herrschaft der Juden«. Als die Einschränkungen gelockert wurden und erste Präsenzveranstaltungen wieder stattfanden, bedrohte ein Mann am 28. Mai die Teilnehmenden eines jüdischen Open-Air-Events in Kreuzberg und rief »Sieg Heil«. Wie im Vorjahr bildeten Angriffe auf die Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen die meistverbreitete Form des Antisemitismus: Dies betraf 41,7 Prozent aller dokumentierten Vorfälle. Im Kontext der Covid-19-Pandemie äußerten sich diese häufig in Form von relativierenden Vergleichen zwischen den Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie und der Verfolgung und Vernichtung europäischer Juden und Jüdinnen.
Einen deutlichen Anstieg gab es bei Vorfällen mit Bezug zu Verschwörungsmythen - dies betraf 34,6 Prozent. Auffällig war auch: Innerhalb des rechtsextremen Spektrums, dem mit 28,3 Prozent erneut die meisten Vorfälle zugeordnet werden konnten, spielte das Reichsbürgermilieu eine weitaus größere Rolle als 2019: Mit 33 wurden wesentlich mehr Vorfälle diesem Spektrum zugeordnet als im Vorjahreszeitraum (5).
Mit der Sichtbarkeit von Antisemitismus im Kontext von Versammlungen und in der Öffentlichkeit verschiebe sich auf Dauer die Grenze des Sagbaren, schätzt Experte Steinitz ein. Solche Entwicklungen ließen sich nicht unbedingt wieder umkehren.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.