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Von der Wahrheit weit entfernt
Prozess um den Mord an Walter Lübcke: Ehemaliger Anwalt des Hauptangeklagten verweigert Aussage
Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht - so könnte man die Zeugenaussagen während der ersten 20 Verhandlungstage im Prozess um den Mord an Walter Lübcke zusammenfassen. Am Dienstag verweigerte ein Anwalt vor dem Oberlandesgericht in Frankfurt am Main die Aussage, zwei Ex-Kollegen des Hauptangeklagten Stephan Ernst ließen am Wahrheitsgehalt der ihren zweifeln.
Ernst hatte seinen ehemaligen Anwalt Frank Hannig zuvor in wesentlichen Punkten von seiner anwaltlichen Schweigepflicht entbunden. Der Jurist sollte zu dem Vorwurf befragt werden, er habe das zweite Geständnis Ernsts zum Teil erfunden. Hannig, so erklärte dessen früherer Mandant kürzlich, soll für die Behauptung verantwortlich gewesen sein, nicht Ernst habe auf Lübcke geschossen, sondern der mitangeklagte Markus H., und zwar versehentlich. Dies, so Ernst, sollte zu einer »Aussage gegen Aussage«-Situation führen, sodass letztlich weder der eine noch der andere für den Mord hätte verurteilt können. Ernsts Anwalt Mustafa Kaplan und ein weiterer Anwalt hatten den Vorwurf bestätigt.
Doch Hannig sagte so gut wie nichts. Er ließ wiederum über seinen Anwalt erklären, er werde von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen, um sich nicht möglicherweise selbst zu belasten. Was wie ein Schuldeingeständnis klingt, ist juristisch keines. Hannig könnte dennoch ein Ermittlungsverfahren drohen. Der Senat gestand dem Juristen das Aussageverweigerungsrecht bis auf einen Punkt zu: Er sollte mitteilen, wie er überhaupt an den Mandanten Ernst gelangt war.
Hannig erklärte daraufhin, ein ihm unbekannter Justizvollzugsbeamter aus der JVA Kassel habe ihn angerufen, ihm gesagt, dass der mutmaßliche Lübcke-Mörder dort einsitze und »einen Anwalt wie Sie« brauche. Er habe Ernst daraufhin einen Brief geschrieben und schließlich das Mandat übernommen. Hannig erklärte, wegen eines »viel beachteten Falles« sei er unter Justizbeamten gut bekannt. Tatsächlich hatte der Anwalt den Justizbeamten Daniel Z. vertreten, der den Haftbefehl gegen einen Verdächtigen veröffentlicht hatte, der an der Tötung von Daniel H. in Chemnitz beteiligt gewesen sein soll. Nach dem Vorfall hatte die AfD zu einer Demonstration in Chemnitz mobilisiert, an der auch Stephan Ernst und Markus H. teilnahmen. Dort sollen sie den Mord an Lübcke beschlossen haben.
Anders als vom Vorsitzenden Richter Thomas Sagebiel vermutet, verweigerten die Ex-Kollegen von Ernst nicht die Aussage. Einer von ihnen, Timo A., kam ohne Beistand und machte es kurz: Er habe von Ernst keineswegs aus politischen Gründen - Angst vor einem Bürgerkrieg, weil immer mehr Flüchtlinge ins Land kamen - eine Waffe gekauft, sondern weil er depressiv gewesen sei und an Selbstmord gedacht habe. An dieser Darstellung hielt er im Verlauf der weiteren Befragung fest. Er behauptete, er interessiere sich nicht für Politik, habe auch mit Ernst nie über Politik gesprochen.
Arbeitskollege Jens L. kam in Begleitung einer Anwältin und war sichtlich nervös. Er atmetet schnell und gehetzt. Auch er will erst gar nicht, dann nur ein wenig mit Ernst über Politik gesprochen haben, von dessen rechtsradikalen Ansichten erst aus den Medien erfahren und diese nicht geteilt haben. Seine frühere Aussage, Ernst habe sich und ihn aus Angst vor einem Bürgerkrieg bewaffnen wollen, wollte er nicht mehr bestätigen. Vor allem bestritt L., wie von Ernst behauptet Schmiere gestanden zu haben, als dieser auf dem Grundstück seiner Firma die Tatwaffe und weitere Waffen verbuddelte.
Geschossen habe L. mit den Waffen, die er von Ernst und auf dem Flohmarkt kaufte, nie, beteuerte er. Er habe sie nur - genau wie die NS-Devotionalien, die die Polizei in seiner Wohnung gefunden hatte - gesammelt. Als Wertanlage und weil sie ihm aus historischen Gründen gefielen - und an Piratenfilme erinnerten. Später gab er doch zu, einen Probeschuss abgegeben zu haben. Die Frage, ob er auch an anderen Stellen seiner Aussage die Unwahrheit gesagt habe, verneinte er. Gegen Jens L. wurde unterdessen Anklage wegen Verstößen gegen das Waffengesetz erhoben, wie die Staatsanwaltschaft am Montag gegenüber dem NDR bestätigte.
Auch in der vergangenen Woche hatte eine Zeugin Zweifel am Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen hinterlassen. Lisa-Marie D., ehemalige Lebensgefährtin von Markus H., beschrieb ihn als ausländerfeindlichen Waffennarren. Dass sie erst auf hartnäckige Nachfragen zugab, selbst politisch rechts zu stehen und auf dem Bein ein mittlerweile übertätowiertes Hakenkreuz gehabt zu haben, untergrub auch ihre Glaubwürdigkeit. Hinzu kommt, dass D. und H. in einem Sorgerechtsstreit um die gemeinsame Tochter stecken. Der Exfreundin könnte also an einer Verurteilung von H. gelegen sein. Doch H. wird demnächst vermutlich aus der Untersuchungshaft entlassen. Richter Sagebiel forderte die Prozessbeteiligten auf, bis Montag eine Stellungnahme dazu abzugeben.
Am 1. Oktober wird der Prozess fortgesetzt. Ein DNA-Sachverständiger wird sein Gutachten zum Fall Ahmad I. erstatten. Ernst wird vorgeworfen, dem Iraker im Januar 2016 in Tötungsabsicht ein Messer in den Rücken gerammt zu haben. Bei Ernst war ein Messer mit DNA von I. gefunden worden.
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