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- »Der nackte Wahnsinn + X«
Drehtürannei des Lebens
Das Puzzle als Rampensau: »Der nackte Wahnsinn + X« von Michael Frayn am Staatsschauspiel Dresden
Ein gehöriges Stück unter seinem vermeintlichen Niveau lachen zu können, ist Gymnastik in Bodennähe. In Bodennähe aber findet alles Lebbare statt. Am Staatsschauspiel Dresden inszenierte Sebastian Hartmann »Der nackte Wahnsinn« von Michael Frayn. Eine Generalprobe im Theater als Fallbeispiel der Klein- und Großkatastrophen. Der Schwank als Drehtürannei des Lebens: Immer kommst du zu spät oder zu früh, immer sagst du den falschen Text, immer bist du am hässlichsten, wenn du am schönsten wirken willst. Jede Szene bleckt hier ihre Zähne und reißt das Stück in Stücke. Die Verwechslung ergreift die Macht, das Missverständnis startet Attentate; das Unglück organisiert, wie überall, seinen Lieblingszustand: sich selbst. Und das Schönste an der Katastrophe ist bekanntlich der Witz, den sie birgt. Jener Witz, der aus lauter Menschen besteht, die sich einbilden, die Welt und das eigene Wesen begreifen und erklären und ordnen zu können.
Hartmanns Bühne: leer, vernebelt, Stellwände und Gitter rauschen durch. Spieler hopsen, hetzen, hinken, heulen, herrschen, hocken. Theatertrubel hehr und hysterisch. Ein Klavier klimpert wie missbraucht. Gesang grient: »Furz, du hast die Gans gestohlen.« Künstlerischer Dilettantismus, bürgerlicher Standesdünkel, krummer Aufstiegseifer, triebiger Unterleibsehrgeiz. Das Fett der Schmiere schmatzt geradezu. Und so was inszeniert Hartmann? Jetzt, da alles verstärkt politisch, kritisch, rebellisch sein soll, neu gehärtet im erwachten Pathos des erzieherischen Dramas? Jetzt, in der Stunde der neu geölten Gesinnungsroboter allüberall?
Ja, just deshalb! Und Hartmanns Regie bleibt sich treu: Ein Theaterstück muss erst mal Angst haben, denn er ist der Chirurg, ist der Aufschneider, der Zu- und Hinrichter. So lange, bis Trauerspiel und Lustspiel die Tränen tauschen - wer weint vor Lachen, wer aus Leid? Eine Dichtung killen, um sie zu erwecken. Raum und Zeit müssen kollabieren. Gleichzeitigkeit statt Abfolge. Aufenthalt im überbordenden Labyrinth des Bewusstseins. Oft Monologe statt eines Dialogs. Das Puzzle ist die größte Rampensau. Die Aufführung wie ein Tableau, wie ein Tablett, das mit Schwung über die Bühne jongliert wird und von dem gleichsam ab und zu ein Herz zu Boden fällt und schmerztönend zerklirrt. Ab und zu. Zu wenig?
Aber dann dringt’s in den zwei Spielstunden doch immer wieder ins bedrückend Existenzielle. Die Rückwand ein Sternenmeer. Da, ein Wal. Generalprobe gleich Galaxie. Da inmitten wir Wichtigkeitswinzlinge. Die Komödianten plustern sich auf, dass man traurig werden kann. Fauchende, elegische, fiebrige Fetzen. Wer bestimmt, was du wert bist? Wie bleibt man ganz bei sich - in einem Gewerbe, das von Publikum abhängt? Die Theaterfrage. Die Politikfrage. Die Parteienfrage. Die Gesellschaftsfrage.
Die Kraft des Todes, uns Tränen zu entlocken, trifft sich an diesem Abend mit dem Angebot des Lebens, sie zu trocknen. Die Inszenierung kalauert mit Hans Moser und Frank Castorf, das berückende Ensemble zerstiebt und palavert. Bittende Hände, himmelschreiende Arme, flehende Augen. Ein Assoziationskreislauf. Mensch, du bist das vollkommene Weder-Noch. Zwitterschaft aus Protz und Leid. Wer soll das aushalten? Du hältst das aus. Sag Beruf dazu oder Pflicht oder Ehe oder Partei oder Ehre oder Mission. Oder Theater. Gesicht zeigen. Welches? Wie viele hat jeder in Umlauf? Und die Liebe? Ist oft nur der Nachtrab zu dem, was aus ihr hätte werden können.
Grandios Torsten Ranft als Regisseur. Mit der energieprallen Verausgabungskunst eines Provinzgauklers tobt, turtelt, tänzelt, turnt er durch sämtliche Variationen dessen, was lausig, linkisch, läppisch, lüstern und liebenswert lächerlich ist. Die weiteren sieben Damen und Herren: souverän keck, ballettös komisch; man ist quick verwandlerisch zwischen Würde und Wurstigkeit. Das Ensemble malt artistisch und anrührend, auftrumpfend und aufgekratzt das Bild einer Bühne, die im Gaukel die Gattung offenbart: Dass der Mensch Trost nötig hat, macht ihn arm, dass er kaum Trost geben kann, macht ihn elend; aber dass ihm eine große Bedürftigkeit nach Trost immer wieder nachwächst, das macht ihn reich und das lässt, im Dreck, doch viel Glanz flackern.
Der korrekte Titel das Abends: »Der nackte Wahnsinn + X«. Dieses X trägt einen Namen. Cordelia Wege gehört die letzte halbe Stunde. Ihr und einem Monolog von Hartmann. Ein Wuchtwurf wirrer, wüster, weher, weinender, wuteiserner Worte. Als zeugten Expressionismus und Neue Deutsche Welle einen brüllenden, bibbernden, betenden Bastard. Die Wege umwerfend. Saitenspiel auf den eigenen Nervensträngen. Ein Lebenstotentanz mit einer Stimme, die das Vokaldunkle wie etwas Schluchtgefährliches liebt. Und die plötzlich so blitzartig ins Wegbeißende springen kann. Die Halbsätze wie Bisse in heiligstem Schreckensschauder. Erschöpfende Aushöhlung einer bangen Seele. Die Schauspielerin trägt ein langes glänzendes schwarzes Kleid, der schöne Wurf der Falten - ein Gegensatz zum ekstatischen, dann wieder bleiblutschweren Unmaß einer so unendlich großen, so heftig hinausgeschrienen Verlorenheit im Universum.
Über die Bühnenrückwand schwebt eine Qualle mit langen Fäden: ein Wesen tiefst unten in der Finsternis, so fröstelnd fern allem Licht. Und wir, sonnenerleuchtet? Sind doch ebenfalls - eine Finsternis. Davon erzählt auch ein Video: Tilo Baumgärtels Comicgesichter zwischen Munchs »Schrei« und Science-Fiction. Leere Augenfenster der Großstadt, Schnee fällt auf eingeklemmte Hütten zwischen dem alles überragenden Wohnbeton. Die Kamera verfolgt Cordelia Wege hinaus ins Foyer, das Bild flockt aus in undeutliche Raster, im Hintergrund die Komödianten von vorhin, wie Lemuren, Zombies. Und Cordelia Wege wie eine, die barfuß einen Steinbruch durchtanzt. Es ist am Ende, als habe die Komödie, haltsuchend, die Hand der Tragödie ergriffen.
Nächste Vorstellungen: 26. und 27. September, 11. und 12. Oktober.
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