Das Ende der »historischen Wahrheit«

Die mexikanische Menschenrechtsverteidigerin María Luisa Aguilar Rodríguez über den Fall Ayotzinapa

  • Isabella Caldart
  • Lesedauer: 4 Min.

43 Studenten aus Ayotzinapa verschwanden am 26. September 2014 im mexikanischen Bundesstaat Guerrero. Bisher kursierte die offizielle Version der Geschehnisse, wonach das lokale Drogenkartell »Guerreros Unidos« die 43 Lehramtsstudenten lebend auf einer Müllkippe verbrannt habe. Im Juli konnte in Kooperation mit dem auf die Auswertung von DNA-Spuren spezialisierten Team der Universität Innsbruck eindeutig festgestellt werden, dass ein im November 2019 im Bundesstaat Guerrero gefundenes Knochenstückchen von Christian Alfonso Rodríguez Telumbre stammt, einem der 43 verschwundenen Studenten. Was bedeutet diese Entdeckung für die Ermittlungen?

Das ist ein großer Schritt - zum einen weil dies eine Zusammenarbeit der Kommission für die Wahrheit (ins Leben gerufen vom jetzigen Präsidenten Andrés Manuel López Obrador, um den Fall aufzuklären, Anm. d. Red.), der Familien und der Staatsanwaltschaft war; zum anderen weil es neue Spuren in der Ermittlung eröffnet. Bis dato hatten wir keine Identifizierung eines Studenten außerhalb der Erzählung der »historischen Wahrheit« von Enrique Peña Nietos Regierung (Präsident von 2012 bis 2018, Anm. d. Red.), laut der alle Studenten von der örtlichen Polizei verschleppt und einer Verbrecherbande übergeben wurden, die sie noch in derselben Nacht ermordeten, die Leichen verbrannten und die Reste in einen Fluss warfen. Deswegen ist der Fund so wichtig, weil er nicht ins Szenarium passt (die Knochenreste wurden in einer Schlucht 800 Meter vom Fluss entfernt gefunden, Anm. d. Red.) und deutlich zeigt, dass es die Absicht der vorherigen Regierung war, den Fall auf eigene Weise zu interpretieren.

María Luisa Aguilar Rodríguez

Die Anwältin arbeitet in Mexiko-Stadt bei der Menschenrechtsorganisation Centro Prodh. Sechs Jahre sind vergangen, seit 43 Studenten aus Ayotzinapa, Mexiko verschleppt und mutmaßlich ermordet wurden. Über den bis heute nicht aufgeklärten Fall sprach mit María Luisa Aguilar Rodríguez für »nd« Isabella Caldart.

Was für ein Ziel verfolgte die Regierung damit?

Die »historische Wahrheit« präsentierte man am 27. Oktober 2014, also nur einen Monat nach den Ereignissen. Das war eindeutig eine Entscheidung von ganz hoher Ebene der Regierung, die den Fall abhaken wollte. Es ist außerdem eine Form zu verschleiern, was in Iguala passierte. In jener Nacht waren mindestens noch die Staatspolizei und die Bundespolizei anwesend, auch die Armee befand sich in der Gegend. Die »historische Wahrheit« behauptet, es sei nur die lokale Polizei, die mit dem organisierten Verbrechen zu tun habe. Dabei gibt es in vielen Gegenden Mexikos Netze der Makrokriminalität, bei denen es unmöglich ist auszumachen, was das organisierte Verbrechen, was der Staat ist. Die Diaspora ist Teil dieser Struktur.

Wie geht es jetzt weiter?

Die Familien haben zwei Prioritäten: zum einen, dass die Staatsanwaltschaft Anklagen gegen die Täter erhebt und diese auch hieb- und stichfest sind. Bis heute gibt es viele - gerade aus dem Staatsapparat -, gegen die noch nicht gerichtlich vorgegangen wurde. Das ist vor allem auch wichtig, weil es sich um Menschen handelt, die über Informationen verfügen könnten. Die andere Priorität besteht darin, mehr über die manipulierten Ermittlungen zu erfahren - warum es so viele Unregelmäßigkeiten und Lügen gab -, und jene, die an dieser Inszenierung beteiligt waren, anzuklagen. Auch die Festnahme von Tomás Zerón wäre wichtig, der diese Ermittlungen leitete (und 2014 die »historische Wahrheit« deklarierte; er befindet sich auf der Flucht, Anm. d. Red.).

Man kann also von zwei Ermittlungen sprechen.

Ganz genau. Und beide sind gleich relevant, nicht weil es nicht wichtig ist, zu erfahren, was in jener Nacht geschehen ist, sondern weil das, was danach kam, Teil des Prozesses all jener Behinderungen ist, denen die Familien ausgesetzt waren.

Warum war es ausgerechnet dieser Fall, der das ganze Land so bewegt hat?

Ayotzinapa ist weder mehr noch weniger relevant als jeglicher Schmerz, den die Familien der 73 000 Verschwundenen fühlen. Die Familien sind sehr vereint, was in einer Tragödie wie der diesen nicht einfach ist, und verwandeln ihren Schmerz in Kraft, um den vielen Lügen seitens des Staats die Stirn zu bieten. Ayotzinapa kann auch ein Beispiel dafür sein, dass man die Sachen in Mexiko richtig macht, gerade hier, wo wir sonst keinen Fortschritt sehen. Dass es eine Ermittlung mit Expertenteam gibt, mit unabhängigen Gutachtern ist ein Beweis dafür, dass Mexiko internationale Unterstützung und somit eine viel größere Öffnung braucht, aber dass es möglich ist, genau dies zu tun, nicht nur für die Familien der 43, sondern für viele andere: dass eine Art Muster erzeugt werden könnte, das den Familien, die nach ihren Vermissten suchen, eine Antwort gibt.

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