Nicht nur Kohl irrte gewaltig

Worauf das falsche Versprechen »blühender Landschaften« vor 30 Jahren beruhte.

  • Jörg Roesler
  • Lesedauer: 5 Min.

Es war auf einer jener Veranstaltungen, auf denen in der DDR im Herbst 1990 Wahlkampf für die ersten gesamtdeutschen Wahlen betrieben wurde. Bundeskanzler Helmut Kohl war, wie schon vor den letzten Volkskammerwahlen im März des Jahres, in die »Zone« gereist. Doch die Stimmung unter den Ostdeutschen schien gekippt. Bei seinem Auftritt am 23. September in Magdeburg jubelten ihm die Zuhörer nicht mehr so frenetisch zu wie im Frühjahr. Sie wollten von ihm konkret wissen, wie er sein Versprechen, ostdeutsche Regionen in »blühende Landschaften« zu verwandeln, verwirklichen wolle. Einem Großteil der DDR-Bevölkerung schwante inzwischen, wovor eine weitsichtige Minderheit vor und nach Abschluss der »Wirtschafts- Währungs- und Sozialunion« zwischen der Bundesrepublik und der DDR, gewarnt hatte: Die Ostdeutschen würden mit enormen wirtschaftlichen Schwierigkeiten und persönlichen Belastungen rechnen müssen.

Kohl, der Stimmungen im Wahlvolk schon immer große Aufmerksamkeit geschenkt hatte, beeilte sich daher, den Magdeburgern zu versichern, dass die ökonomischen Probleme in Ostdeutschland »in ganz wenigen Jahren« zu lösen seien. Was ihm bekanntlich bis zum Ende seiner Kanzlerschaft 1998 nicht gelang. Und auch seiner christdemokratischen Nachfolgerin im Amt, Angela Merkel, nicht, wie ein Blick in viele Regionen offenbart.

Man fragt sich, wie und warum Kohl so leichtfertig ein so großes Versprechen hat abgeben können. Meinte er, die Ostdeutschen belügen zu müssen, um mit deren Stimmen im Dezember 1990 an der Macht zu bleiben? Dafür spricht einiges. Jürgen Leinemann, Verfasser einer Kohl-Biografie, beschreibt detailliert, wie des Kanzlers Position innerhalb der CDU schon im September 1989 auf dem Bremer Parteitag arg bedroht war. Die Aussichten des Oggersheimer, die nächsten Bundestagswahlen zu gewinnen, schienen gering. Seinem damaligen SPD-Herausforderer Oskar Lafontaine wurden echte Chancen zugesprochen, selbst vom liberalen Flügel in der CDU, insbesondere hinsichtlich dessen Vorstellungen von einer behutsameren Einigung beider deutscher Staaten.

Andererseits war Kohl mit seiner überoptimistischen Einschätzung, Ostdeutschland in kurzer Zeit auf »Westniveau« bringen zu können, innerhalb der CDU keineswegs allein. Auch Norbert Blüm, vom CSU-Chef Franz-Josef Strauß dereinst als »Herz-Jesu-Marxist« verspottet und vor 30 Jahren schon längst kein unmittelbarer Gefolgsmann von Kohl mehr, hatte noch in einem am 17. September 1990 veröffentlichten »Spiegel«-Interview erklärt: »Ich glaube, dass das Niveau zwischen ehemaliger DDR und Bundesrepublik in drei bis fünf Jahren ausgeglichen ist.« Weitere Äußerungen dieser Art von anderen Prominenten ließen sich anführen.

Gehen wir einmal davon aus, Kohl wie auch Blüm waren überzeugt von dem, was sie verkündeten. Worauf basierte ihre Zuversicht? Die Antwort zu finden, fällt nicht schwer. Sie basierte auf einer in der Bundesrepublik weitverbreiteten Interpretation des »deutschen Wirtschaftswunders«. Diese besagt, dass auf der Grundlage der von Ludwig Erhard konzipierten und im zweiten Halbjahr 1948 per Währungsunion eingeführten »sozialen Marktwirtschaft« sich Westdeutschland aus den Fesseln der von den Nazis organisierten »staatlichen Zwangswirtschaft« befreien konnte und damit das »Wirtschaftswunder«, der Aufstieg der Bundesrepublik aus der ökonomischen Misere zur führenden Wirtschaftsmacht Westeuropas, möglich wurde. Eine Wiederholung, ein »zweites deutsches Wirtschaftswunder«, erschien vielen bundesdeutschen Politikern möglich. Dies ergäbe sich, so dachten sie, aus vier Prämissen: Und zwar daraus, dass die DDR mit dem Berliner und dem sächsisch-thüringischen Raum über ein traditionell starke Industriegebiete verfüge und im internationalen Vergleich ein niedriges Lohnniveau ausweise. Jahrzehntelange Kooperation im Rahmen des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW), dem sozialistischen Pendant zu Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), gewähre zudem weiterhin günstige Exporte in Länder Mittel- und Osteuropas und nach Russland. Und schließlich war man sich sicher, dass die Ostdeutschen einen großen Nachholbedarf im Konsum von allerlei Gütern hätten. Aus diesen in westdeutschen Wirtschaftskreisen kursierenden Überlegungen ergab sich, dass die beste Lösung die Übertragung der bundesdeutschen Wirtschaftsordnung auf die DDR sei - so rasch und vollständig wie möglich.

Diese Auffassung fand durch die bundesdeutschen Medien unter der Bevölkerung in West- wie Ostdeutschland rasche Verbreitung. Eine besondere Rolle spielte dabei ein fiktives Interview, das der langjährige »Spiegel«- Chefredakteur Peter Gillies mit dem 1977 verstorbenen Ludwig Erhard führte, wobei er Zitate aus dessen Werken zusammenklaubte. Er ließ in dem im August 1990 veröffentlichten Text den Vater des westdeutschen »Wirtschaftswunders« orakelte für die stetig beschworene künftige »Wiedervereinigung« Deutschlands, dass der »unumgänglich notwendige Angleichungsprozess« eine »Verflechtung zweier Wirtschaftsgebiete« sein werde: »Mit einer stärker zunehmenden Arbeitslosigkeit ist nicht zu rechnen. Die Betriebe und Unternehmen im Osten werden durch Wettbewerb rascher und erfolgreicher zu höherer Leistungsergiebigkeit gelangen. In politischer, wirtschaftlicher und menschlicher Beziehung wird die Wiedervereinigung Deutschlands Kräfte freimachen, von deren Stärke und Macht sich die Schulweisheit der Planwirtschaft nicht träumen lässt.« Kohl hat also in Magdeburg mit seinem Versprechen einer Angleichung des ostdeutschen an das westdeutsche Wirtschafts- und Lebensniveau »in ganz wenigen Jahren« keineswegs hoch gepokert oder drauflos schwadroniert. Er hat das vorgetragen, von dem selbst professionelle Ökonomen und Wirtschaftswissenschaftler glaubten, dass es geschehen werde.

Aber es gab auch Zweifler, etwa im renommierten Münchener Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung. Dessen Ergebnisse präsentierte Klaus von Dohnanyi im Oktober 1990 im »Spiegel«. Prophezeit wurde ein Zusammenbruch des Osthandels sowie harte Konkurrenz der ostdeutschen Betriebe mit jenen im Westen: »Die Betriebe in der DDR hinken in puncto Anlagen, Produktivität und Produkten zunächst meilenweit hinter den neuen Wettbewerbern aus dem Westen hinterher. Sie verfügen kaum über ein erfahrenes Management. Sie werden von einer brüchigen und kaum rentablen Infrastruktur getragen. Dass bei diesen Produktivitätswettlauf die DDR-Region in fünf Jahren aufholen kann, scheint höchst fragwürdig«. Dohnanyi und die Ifo-Experten vermuteten, »dass die vollständige Angleichung bis etwa zum Jahre 2005/2010 erfolgen könnte«.

Prof. Dr. Jörg Roesler, Wirtschaftshistoriker, ist Mitglied der Leibniz-Sozietät.

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