- Kultur
- Sibel Schick
Besser dreist als still
Sibel Schicks «Hallo, hört mich jemand?» rechnet ab mit einem Deutschland, das die Augen verschließt
Hallo, hört mich jemand?« vereint die Kolumnen und Kommentare von Sibel Schick der letzten drei Jahre. »Na toll, dann ist das meiste ja gar nicht mehr aktuell«, könnte man meinen. Doch gerade diese Zoom-out-Perspektive, die sich daraus ergibt, macht die Stärke des Buches aus.
Schick wurde 1985 in Antalya geboren und zog 2009 nach Deutschland. Sie ist Autorin und Redakteurin und studiert Soziologie in Leipzig, aber vor allem ist Sibel Schick im Online-Aktivismus groß geworden. Inzwischen schreibt sie Kolumnen für »Missy Magazin«, »nd« und »taz«. Deutschland habe sie radikalisiert, sagt Schick. Sie zielt mit messerscharf-simplen Sätzen wie »Was ist schon Integration, wenn nicht die Ermöglichung von Teilhabe?« auf den Mainstream in Deutschland und zeigt, wie wenig von diesem Satz Realität ist. 2017 haben bei der Bundestagswahl knapp sechs Millionen Menschen die AfD gewählt, während zehn Millionen eine andere Staatsbürgerschaft als die deutsche besitzen und damit nicht wählen durften.
Am Anfang von »Hallo, hört mich jemand?« steht die Einsicht: Nicht allen Menschen wird auf die gleiche Weise Aufmerksamkeit gewidmet, nicht alle werden gehört. Manche müssen schreien, polarisieren, dreist sein, um überhaupt bemerkt zu werden, um Gehör zu finden. Nur um ihnen dann genau das wieder vorzuwerfen: »Wer als betroffene Person über Rassismus spricht, wird in der Regel zur Zielscheibe gemacht«, stellt Schick fest.
Aus Betroffenheit heraus zu schreiben, ist für einen Journalismus, der vermeintliche Objektivität an Privilegien knüpft, ein Unding. So gelten weiße heterosexuelle Männer als besonders objektiv und ihre Wut daher als legitim und allgemein. »Was ich lernen musste, als ich 2009 nach Deutschland gezogen bin: erstens die Sprache, zweitens den Umgang mit der Tatsache, dass Deutsche nicht spontan sind, drittens, dass sie dich unter der Woche schon um 22 Uhr nach Hause schicken, weil sie am nächsten Tag arbeiten müssen. Mehr nicht. Integration war nicht das Problem. Mein Problem sind eher Rassismuserfahrungen, die ich mache, und der Stress, den mir der unsichere Status gibt«, schreibt Schick und steht mit ihrer Position für ihre politische Positionierung ein.
Dafür hat sie einiges an Hass abbekommen: 2018 twittere sie: »Es ist ein strukturelles Problem, dass Männer Arschlöcher sind.« Daraufhin braute sich ein Shitstorm gegen sie zusammen. Derjenige, der Sibel Schick den rechten Trolle erst bekannt gemacht hatte, ist vor allem Don Alphonso, mit bürgerlichem Namen Rainer Meyer. Damals arbeitete er bei der FAZ, heute betreibt er zwei Blogs auf welt.de. 2018 veröffentlichte der einflussreiche rechte Blogger einen Text über Schick, in Folge wurde die Autorin auf dem Youtube-Kanal des Rechten Martin Sellner von der Identitären Bewegung erwähnt und rechter Hass daraufhin zu einer ernsten Bedrohung für Schick.
Viel Negatives lässt sich nach diesem Vorfall über Social Media sagen: Hass im Netz, rechte Trolle, Fake News. »Hallo, hört mich jemand?« kehrt jedoch auch die positiven Seiten der sozialen Medien heraus und die Dringlichkeit, sich auch dort öffentlich zu positionieren. Denn diese Medien sind Waffen: Weil sie allen zugänglich sind, insbesondere auch Menschen, für die der Weg in die traditionellen journalistischen Institutionen noch schwieriger ist als für andere. »Sowohl als Migrantin wie auch als freie Autorin bin ich auf Social Media angewiesen. Als Ausländerin ist es sehr schwierig, in deutschen Medien Fuß zu fassen und sich an gesellschaftlichen Debatten zu beteiligen. Auf Twitter habe ich die Möglichkeit, mich über politische Themen zu äußern, von denen ich betroffen bin« schreibt Schick. Gleichzeitig betont sie auch: »Twitter ist kein Ersatz für das Stimmrecht.«
Schick reagiert in ihren Texten zum Beispiel auf den Anschlag in Hanau im Februar 2020, bei dem zehn Menschen ums Leben kamen, und betont, dass Rassismus in Deutschland ein »gesamtgesellschaftliches Problem« und keine »psychische Erkrankung« sei. Sie prangert den Rassismus der deutschen Medien rund um den deutschen Fußballspieler Mesut Özil an, als er sich mit dem türkischen Präsidenten Erdoğan fotografieren ließ, und von dem daraufhin ein »Bekenntnis zu Deutschland« gefordert wurde - während die deutsche Bundesregierung gleichzeitig »im Kuschelkurs mit Erdoğan und der AKP« sei und mit dem Flüchtlingsabkommen und dem Waffenhandel aktiv zu Menschenrechtsverletzungen beitrage.
Feministische Themen nehmen ebenfalls einen großen Platz im Buch ein: Schick beschreibt etwa, wie die deutsche Öffentlichkeit die Augen davor verschließt, dass Frauenmorde hierzulande ein Problem sind, und wie leicht es ihr dagegen fällt, Frauenhass außerhalb Deutschlands zu verorten. Im Jahr 2016 wurden 435 Frauen getötet, von denen 163 mit dem Täter zusammenlebten.
Auch persönlichere Texte über das Arschloch namens Heimweh, Tinder-Dates und das Leben mit ADHS und posttraumatischer Belastungsstörung oder auch darüber, wie es ist, Kurdin zu sein, die Sprache aber nie gelernt zu haben, finden sich in »Hallo, hört mich jemand?«. Doch vor allem spinnt die Zusammenstellung der Texte einen roten Faden zwischen den Ereignissen der letzten Jahre: Da sind die Aussagen von Annegret Kramp-Karrenbauer im Karnevalsapril 2019 über die »Latte-Macchiato-Fraktion, die die Toiletten fürs dritte Geschlecht einführen«, die mit NSU 2.0 unterzeichneten Morddrohungen an die Anwältin Seda Başay-Yıldız, die Opfer des NSU vertritt, der Mord an Walter Lübke. Die Frage steht im Raum: In was für einer Welt leben wir eigentlich?
Dies lässt sich, das zeigt »Hallo, hört mich jemand?« deutlich, genauer beantworten, wenn wir einen Schritt zurücktreten, raus aus dem alltäglichen Klein-Klein, wo der nächste Aufreger den alten verjagt. Was bleibt, ist ein Deutschland, in dem die Stimme von Sibel Schick dringend gehört werden muss.
Sibel Schick: Hallo, hört mich jemand? Rassismuskritische und feministische Kolumnen und Kommentare. Edition Assemblage, 145 S., br., 12 €.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.